laut.de-Kritik
Dem Himmel so nah.
Review von Mirco LeierÜber Liturgy zu schreiben bedeutet unweigerlich auch, sich eine gigantischen Rucksack an philosophischer und theologischer (Musik-)theorie aufzuziehen. Haela Ravenna Hunt-Hendrix und ihre Band schreiben nämlich nicht einfach nur Konzept-Alben, sie schreiben KONZEPT-Alben, für deren Verständnis man wahlweise einen Doktortitel in der Tasche oder hochdosierte psychedelische Drogen im Blut haben sollte. Der noch relativ simple Punkt, von dem alles ausgeht und der auch ihrem Debüt zugrunde lag, liegt in der Theorie des "Transcendental Black Metal". Dem Versuch, den historischen Nihilismus dieses Genres in eine produktivere Quelle der Affirmation umzuwandeln. Oder anders gesagt: Liturgy wollen Black Metal spielen, der einen nicht dazu verleitet, Kirchen anzuzünden oder vom Balkon zu springen.
In einem Genre, das sich seit seiner Entstehung ungefähr so sehr weiterentwickelte wie die Kakerlake in den letzten 100 Jahren, verwundert es allerdings wenig, dass ein solch radikales Anfechten des Status Quo nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurde. Vielmehr jagte man Hunter als esoterische Ketzerin vom Hof und kehrte zur üblichen Tagesordnung zurück. Doch obwohl ihre ersten musikalischen Outings auf Alben wie "Aesthetica" oder "The Ark Work" vielerorts ebenso viel Häme wie Lob einfuhren, blieb die Musikerin ihrer Linie treu und tauchte über die Jahre nur noch tiefer in ihren eigenen philosophischen Kosmos ab.
Das erschwerte sicherlich für viele den Erstkontakt mit philosophisch überfrachteten Alben wie "H.A.Q.Q" oder "Origin Of The Alimonies", doch selbst ohne sich jedes Flowchart, jedes Manifest und jeden zweistündigen bedeutungsschwangeren Video-Essay über die religiösen Philosophien der Frontfrau anzusehen, fällt es nicht schwer zu erkennen, dass diese Band schlichtweg großartige, innovative Musik spielt, die Metal auf eine gänzlich neue Art und Weise denkt. Wer in die intellektuellen Untiefen und Hintergründe von Hunt-Hendrix' Musik abtauchen will, der darf das gerne tun, das Tolle an Liturgys Musik war jedoch schon immer, dass sie auch für sich funktioniert.
Das gilt auch für "93696", das sich nach Jahren der fortwährenden musikalischen Progression der Band wie ein artistischer Klimax all ihrer Einflüsse und Experimente anfühlt. Eine laute, chaotische, wunderschöne und vor allem ausdefinierte Kulmination all der Dinge, die diese Band über die Jahre so besonders machte. Ein musikalischer Behemoth, der den Black Metal buchstäblich gen Himmel aszendieren lässt.
So undurchsichtig auch dieses Mal der theologische Hintergrund des Albums ausfällt, so offensichtlich sind die Themen von Himmel, Gott und dem nächsten Leben auf musikalischer Ebene. "93696" klingt hell, geistlich und in einem fast schon religiösen Sinne überwältigend und grandios. Als würde man einem biblischen Engel gegenübertreten und sich voller Hingabe von dem kosmischen Horror vereinnahmen lassen. Gäbe es einen perfekten Ort, um dieses Album zu hören, so wäre es eine lichtdurchflutete Kathedrale.
Alle Elemente, mit denen Liturgy über die Jahre versuchten, ihre Version des Black Metal voranzubringen, finden auf die eine oder andere Weise ihren Weg auf dieses Album. Auf "Djennaration" und "Haelegen II" hören wir die elektronischen Einflüsse aus "The Ark Work", nur eben noch geschmackvoller und gekonnter ausdefiniert. Die chaotischen Trap-Drums und Glitches kämpfen nicht länger mit den kreischenden Gitarren-Salven um die musikalische Vorherrschaft, sondern fließen vollkommen organisch in das Songwriting ein und fühlen sich im Auge dieses tonalen Hurricanes nicht länger wie Fremdkörper an, sondern wie ein völlig logisches Puzzlestück.
Das gilt für so ziemlich all die unorthodoxen Kniffe, die die Band über die fast 90 minütige Spielzeit von "93696" vornimmt. Egal ob eine Flöte auf "Djennaration" leise im Hintergrund dudelt, auf "Ananon" immer wieder ein Chor in den Black Metal-Reigen mit einsteigt oder auf "Healegen II" einem das unverständliche Spoken Word-Gemurmel das Gefühl gibt, gerade einer Seance beizuwohnen: Das Gimmick-hafte weicht einer fast augenöffnenden Vollkommenheit: Man hat das Gefühl, das ist der Moment, auf den sich die gesamte Karriere Liturgys zuspitze. Noch nie zuvor klang ihre musikalische Vision lebendiger, und noch nie zuvor fielen all die avantagardistischen Versatzstücke ihrer Musik so mühelos ineinander.
Am besten veranschaulicht dies wohl der Titeltrack, dessen vierzehn Minuten geradezu an einem vorbeifiegen. Fast minutiös wechseln Liturgy das Tempo und schlagen neue Haken. Ein brutales Riff jagt das nächste, Hunt-Hendrix liefert die vielleicht animalischste Performance ihrer Karriere, hier taucht kurz ein Klavier auf, da scheint der Verstärker das Instrumental nicht hergeben zu wollen und lässt es kurz stolpern und glitchen. Am Ende kulminiert alles alles in einer Wand aus malerischem Krach, die einem in ihrer Schönheit fast die Tränen in die Augen treibt. Das erinnert genauso sehr an die überwältigenden und atemberaubenden Krachlawinen von Burzum und Paysage D'Hiver wie auch an die verspielte Komplexität von Mastodon oder Meshuggah.
Ohnehin: Die Progression mancher Instrumentals, die in ihren finalen Crescendos oftmals in orgasmische Höhen aufschwingen, lässt sich teils eher im Post-Rock als im klassischen Black Metal verorten. Ihre Instrumentals erzählen Geschichten. Liturgys Gitarren klingen wie Engelschöre, die Riffs evozieren weniger Bilder von verschneiten Tannen und kalter Schwärze, eher von gleißendem Sonnenlicht und kaltem Marmor. Selbst die Blastbeats klingen unerwartet euphorisch. Auch das liegt daran, dass Liturgy weit über den Tellerrand ihres Genres hinausblicken und sich ebenso sehr beim Black Metal wie aber auch bei Mathcore, Prog, oder eben bei Chamber Music und Klassik bedienen.
Denn inmitten des instrumentalen Feuerwerks bilden zahlreiche, hypnotisch-entschleunigte Stücke einen Gegenpol und einen willkommenen Moment der Ruhe. Seien es sakrale Chöre wie auf "Angel Of Sovereignty", epische Streicher und Synths auf "Angel Of Individuation", entspannter Ambient auf "Angel Of Hierachy" oder der Klang einer Okarina auf "Red Crown II", die, so fühlt es sich an, inmitten der beiden Hälften der LP aus dem Jenseits ein Schlaflied für uns singt. Liturgy halten eine ständige Balance zwischen Krach und Ruhe.
Die Interludes leben jedoch nicht nur von dem Effekt des Kontrasts, auch sie füllen ihre Laufzeit stets mit neuen Ideen oder rekontextualiseren alte Motive. So führt "Angel Of Emancipation" die Melodie von "Angel Of Hierarchy" weiter, entschleunigt sie noch mehr, bis der Song fast gänzlich zum Stillstand kommt, nur um, begleitet von fast schon übernatürlich anmutendem Gesang, in ein funkelndes kleines Crescendo überzuleiten, das die Weichen für den Sturm nach der Ruhe stellt, der auf der zweiten Hälfte der LP erneut über einen hereinbricht.
Ähnliches geschieht auch auf dem bereits erwähnten "Angel Of Individuation", das seine fast sechsminütige Laufzeit mit einer filmreifen Progression rechtfertigt, die rekonstruiert, wie es sich wohl anfühlen muss, in das nächste Leben überschreiten. Lange weinen nur die Streicher, doch Stück für Stück gesellen sich vereinzelte Gitarren hinzu, leise läuft der Synthesizer warm, hier und da läutet eine Engel seine Glocke, bis am Ende auch die letzte erdliche Verbindung reißt, alles Instrumentale ineinander stürzt, ein Blastbeat ertönt und die Himmelskutsche zum Galopp ansetzt.
Wer in den hochgestochenen Hintergründen dieses Projekts Gründe suchen will, um über dieses Projekt die Nase zu rümpfen, der wird diese zuhauf finden. Wer sich allerdings einzig auf die Musik konzentriert, der darf sich auf eine fast schon religiöse Erfahrung gefasst machen.
Hund Hendrix und ihre Band haben mit "93696" nicht nur mit Abstand ihr bestes Album abgeliefert, sie haben auch den Kanon des Black Metal um einen einzigartigen und den beeindruckendsten Eintrag der letzten Jahre bereichert.
3 Kommentare mit 11 Antworten
Ich hätte dem Album die voll Punktzahl gegeben. Ansonsten starke Rezi!
die (bm-)vocals ruinieren mir das hörvergnügen leider enorm
Geht mir auch so.
Versteht überhaupt jemand die Texte? Die sollen ja bedeutungsschwanger sein.
>In einem Genre, das sich seit seiner Entstehung ungefähr so sehr weiterentwickelte wie die Kakerlake in den letzten 100 Jahren.."
Vollkommen absurdes Statement. Da hat jemand offensichtlich selbst keine Ahnung von den Entwicklungen und Spaltungen die seit Ende der 90er passiert sind, meint aber eine Szene so gut zu kennen, dass man sie einfach mal generalisierend mit der Puristenkeule abfertigen kann.
Scene-tourism in a nutshell.
Den Teil hab ich auch überhaupt nicht verstanden. Selbst ich als Genre-Tourist hab ja irgendwie mitbekommen, dass zwischen Those Of The Unlight, Sunbather und diesem Release hier eine Kleinigkeit passiert ist in dem Bereich...
Das Statement ist ein bisschen überspitzt, das zwischen einem "Blaze In The Nothern Sky" und einem "Satanist" allein produktionstechnisch Welten liegen ist ja nicht von der Hand zu weisen, und ich will auch nicht behaupten ein Experte auf dem Gebiet zu sein, aber für meine Ohren hat sich in der allgemeinen Ästhetik des Genres (sowohl was die Themen der Musik als auch die Instrumentation), abgesehen von einzelnen Ausnahmen (Deathspell Omega) in den letzten zwanzig Jahren nicht allzu viel getan. Vielleicht bin ich aber auch einfach wirklich nicht tief genug in der Materie drin, freue mich immer über Empfehlungen.
Bands wie Alcest, Sunbather, Agalloch etc seh ich übrigens eher im Post-Metal oder Shoegaze (bzw Blackgaze) als im Black Metal.
Ich habe gar keine Ahnung von Zottelkuttenmusik, aber desto mehr Genres du definierst, desto weniger Weiterentwicklung gibt es in diesen Genres.
Aber die Weiterentwicklung führte ja erst zu diesen Genres.
Fair enough
Wann ist "Fair enough" eigentlich so ein Mode-Ausdruck geworden? Wahrscheinlich vor 20 Jahren... Ich bin alt und Krieg nix mehr mit. Sagt man noch "knorke"?
Viele später sozialisierte Menschen sind eng mit dem Internet aufgewachsen. Da spricht mensch englisch. Geht mir auch so. Habe manchmal englische Redewendungen oder Antworten im Kopf und muss hart überlegen, wie ich das auf deitsch so formulieren könnte, dass die Form erhalten bleibt.
Und nope, knorke sagt wirklich niemand mehr.
Mumpitz!!!! Natürlich sagt man noch knorke!!!! Lasst das Wort nicht aussterben, bitte!!!! ♥
Verstehe auch nicht, was caps meint. Günter, 61, jung(geblieben) und hip, sagt immer noch knorke. Und das ist auch gut so!