laut.de-Kritik

Die richtigen Worte für den richtigen Moment.

Review von

Wer ist "Hugo"?! Das dürften sich wohl alle fragen, die sich mit dem neuesten Album von Loyle Carner konfrontiert sehen. Dass der Londoner Rapper die Frage nach der Namensgebung größtenteils unbeantwortet lässt, stellt sich als nebensächlich heraus, denn: "Hugo" spricht für sich selbst.

Bereits die beiden ersten Alben Loyle Carners hatten Tiefgang - sowohl emotional wie lyrisch. Doch irgendwie lassen sich weder "Yesterday's Gone" noch "Not Waving, But Drowning" mit seinem Drittling vergleichen. "Hugo" mutet sehr viel direkter und kantiger an als seine beiden Vorgänger. Fast möchte man sagen: erwachsener.

Dabei hat sich das Soundbild nicht allzu stark verändert. Wunderbar warme Arrangements erwarten das Publikum auf den zehn Songs, die die Herzen von Fans organischer Beats höher schlagen lassen. Verstaubte Drums finden sich hier genauso wie einsame Blues-Bläser, Noir-Bassläufe, sanfte Pianoklänge und herrlich verkopfte Jazz-Rhythmen. Der Klang präsentiert sich satt und voll - bleibt aber selbst an seinen breitesten Stellen wie in "Nobody Knows (Ladas Road)" zart und einfühlsam.

Man kommt nicht umhin, im Soundbild eine gewisse Nuance herauszuhören, die auch in anderen englischen Produktionen der Stunde - namentlich Sault oder Little Simz' "Sometimes I Might Be Introvert" - zu vernehmen ist. Ob diese nur schwer in Worte zu fassende Aura tatsächlich auf die Feder Inflos zurückzuführen ist oder blanker Zufall, lässt sich leider nicht genau klären. Es scheint allerdings so, als würde sich auf der Insel eine neue Soundwelle manifestieren, die organischen Jazz-Soul-Rap-Kompositionen eine neuartige Erdung verpasst.

So oder so unterstützen die Arrangements auf "Hugo" Loyle Carner absolut störungsfrei. Rapper und Beats tragen sich gegenseitig - in den aufwühlenderen Momenten genauso wie in den behutsamen. Letztere sind allerdings etwas rar gesät, zumindest auf emotionaler Ebene.

"Let me tell you what I hate: everything I ain't / everything I done / everything I break". Das sind die ersten Verse des Openers "Hate". In den drei Jahren, die seit "Not Waving, But Drowning" vergangen sind, hat sich ein Riss in Loyle Carner aufgetan, dem es sich zuzuwenden gilt. Doch der Riss entpuppt sich als mannigfaltige Trias, deren Bewältigung den Rapper näher zu sich selbst bringt. Durch die Beschäftigung mit seinen karibischen Wurzeln und die neu-aufgeflammten weltweiten Rassismusdebatten der vergangenen Jahre sieht sich Loyle Carner erstmals stärker mit dem Schwarzen Teil seiner Identität konfrontiert - und muss starke innere Widersprüche aushalten: "I fear the color of my skin / I fear the color of my kin / I fear the color that's within."

Die Auslotung zwischen Schwarzer, weißer und persönlicher Identität findet allerdings nicht nur in der Introspektive statt. Mehrmals thematisiert der Rapper die Sichtbarkeit Schwarzer Menschen und damit einhergehende Stigmata. "They said it would all that you could be if you were black / playin' ball or maybe Rap." Diese durchaus harten anklagenden Beobachtungen verleihen "Hugo" gesellschaftspolitisches Gewicht - doch sind sie eigentlich nur Teil der eigenen Geschichte, wie in "Speed Of Plight" sichtbar wird: "Tryna find a piece of my youth / because on them late nights, we be gettin' bruised / the people wanna dance, they don't wanna hear the truth / they got no lovin' for no n***as on the news / sorry Alfa, but they won't listen if I sing the blues."

Wortstark macht Loyle Carner seinem Frust Luft. Und der richtet sich nicht nur gegen die Gesellschaft, sondern entspringt auch seiner persönlichen Position. Der Rapper hadert mit seiner Rolle als Vater, die ihn sehr jung eingeholt hat - und merkt doch, dass er nicht umhin kommt, sich mit seinen eigenen Wurzeln auseinander zu setzen, wenn er dem Teufelskreis abstinenter Schwarzer Vaterfiguren ein Ende setzen will. Das jedoch reißt alte Wunden auf, die ganz konkret in "Ladis Road" benannt werden: "I was left and she would say: 'he ain't comin, but I can tell him that you love him' / and I was shoutin': 'nah love means nothing / say I want a hug, I wanna talk, I want something!"

Die ernüchternde Erkenntnis folgt jedoch auf dem Fuß: "You can't hate the roots of the tree and not hate the tree / so how can I hate my father without hating me?" Und sie geht noch weiter, denn Loyle Carner ist mittlerweile nicht mehr nur Sohn, sondern selbst Vater - und damit teil des Zyklus, wie er in "Homerton" feststellt: "Late at night as I let the pen bleed / to be the father with the madic up his sleeve" - "From the roots to the apple to the tree / just another me tryna fall further out of reach."

Es ist bemerkenswert, wie nah und direkt die Emotionen durch die Verse wirken und Loyle Carner gleichzeitig genügend Abstand wahrt, um mit beinahe schmerzhafter Präzision und Klarheit die richtigen Worte zu finden. Die Texte haben Struktur, verlieren sich nicht in leeren Bildern, sondern gehen mit sicherem Schritt auf die Pointe, die Lehre, die Erkenntnis zu. Große Lyrik liefert der Rapper da, anders kann man es nicht nennen. Selbst scheinbar banale Alltagsbeschreibungen bekommen stilistisches Gewicht, wenn Loyle Carner sie in den Mund nimmt. Dabei geht es ihm jedoch nie um die Lyrik, nicht um die Wirkung der Worte. Es geht immer nur im eines: Die richtigen Worte für den richtigen Moment. Und die hat Loyle Carner mit "Hugo" definitiv gefunden.

Trackliste

  1. 1. Hate
  2. 2. Nobody Knows (Ladas Road)
  3. 3. Georgetown (Feat. John Agard)
  4. 4. Speed Of Plight
  5. 5. Homerton (Feat. Jnr Williams & Olivia Dean)
  6. 6. Blood On My Nikes (Feat. Wesley Jospeh & Athian Akec)
  7. 7. Plastic
  8. 8. A LAsting Place
  9. 9. Pollyfilla
  10. 10. HGU

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3 Kommentare

  • Vor 2 Jahren

    Nice Beats. Homogen trotz vieler Spuren.

  • Vor 2 Jahren

    Gefällt mir gut, obwohl der britische Akzent ein wenig nervt.

  • Vor einem Jahr

    "Hugo" ist wohl die Karre seines Vaters, die er sich während des Lockdowns augeliehen hat. Hab ich aber auch erst gelesen, nachdem ich schon ein bisschen hin- und herüberlegt hatte, ob es eine Variation auf "Hug You" (ähnlich wie beim Abschlusstitel oder seinem Alias) oder schlicht der Name seines Sohnes ist.

    Das und andere Gedanken zu seinen Intentionen bei den einzelnen Tracks gibts, zumindest als Zitat, bei genius zu lesen, was ich in dieser Offenheit doch recht erfrischend unkryptisch fand. Passt irgendwie auch zu der konkreten Herangehensweise an das Vater/Sohn-Thema des Albums. Bin nicht sicher, ob ich das im Vergleich zu den Vorgängern auch "erwachsener" nennen würde (gefühlt kam ja schon immer sehr reflektiertes/frühreifes Zeug von Raps Jude Bellingham), aber es gefällt mir jedenfalls auch noch ein bisschen besser.

    Schwanke derzeit noch zwischen 4 und 5, weil die alles überragende Standout-Nummer mMn nicht dabei ist, aber auf jeden Fall ein super Album und eines der Highlights dieses Jahr.