laut.de-Kritik
In ferner Zukunft, erschreckend nah.
Review von Giuliano BenassiLange ist es her, dass ein junger Musiker nach einem Konzert von Giant Sand dessen Mastermind Howe Gelb eine Kassette in die Hand drückte. Der hörte sie sich tatsächlich an, nahm ihn gar bei seinem Label unter Vertrag und setzte so den Startschuss für eine bemerkenswerte Karriere. Um 2010 war Matt Ward ein Star der Alt-Folk-Szene, dank seiner vielen Kollabos und seinen Bands Monsters Of Folk sowie She & Him, Letzteres ein Duo mit der Schauspielerin Zooey Deschanel.
Parallel lief die Tätigkeit unter eigenem Namen unregelmäßig weiter. Nach seiner bitteren Abrechnung mit den Gepflogenheiten der Musikbranche ("What A Wonderful Industry", 2018) ist Ward nun bei Brett Gurewitz' Label Anti untergekommen und setzt in einer gewissen Hinsicht auf Neustart.
Das Album ist nicht, wie der Titel vermuten lässt, politisch. Jedenfalls nicht explizit. Ward erzählt keine Horrorgeschichten von Menschen in einer verzweifelten Lage. Es geht ihm eher um den menschlichen Drang, sich zu bewegen und immer wieder etwas Neues anzupacken. Die Migrationsgeschichten, die er hier erzählt, "las ich in der Zeitung oder hörte ich von Freunden, als ich in Europa und Nordamerika auf Tour war. Mir fiel auf, wie ähnlich sie waren, obwohl sie aus unterschiedlichen Kontinenten stammten. Lediglich die Namen der Mächtigen und Machtlosen waren anders. Ich überlegte: Ist das unsere Zukunft"?
Eine Zukunft, die sich bei Ward eher retro anhört, mit viel Hall, Twang, Doo-Wop, Rock'n'Roll-Balladen und Chören, die an die Beach Boys erinnern. Auch packt er wieder jene ruhigen und schlaftrunkenen Stimme aus, die bereits sein zweites Album "End Of Amnesia" (2000) prägte.
In anderer Hinsicht erweist sich Ward ungewollt prophetisch. Bei den Stücken handle es sich um "elf weitgehende instrumentale Balladen, die uns in eine ferne Zukunft katapultieren, in denen die Nächte wieder ruhig sind und wir uns frei bewegen können". Corona, das bei der Veröffentlichung der Plattenpromo noch nicht im Umlauf war, hat die ferne Zukunft in eine erschreckend nahe verwandelt, zumindest vorübergehend.
Die Pandemie war im Winter 2018/19 noch Science Fiction. "Chamber Music", "Stevens' Snowman" und "Rio Drone" nahm Ward zuhause in Portland, Oregon auf, mit den restlichen Stücken reiste er ins kanadische Montreal, um sie in Arcade Fires Studio auszuarbeiten. Mit von der Partie waren dessen Mitglieder Tim Kingsbury sowie Richard Reed Parry und, zum ersten Mal überhaupt, ein Produzent: Craig Silvey.
"Es war eine schöne Zeit mit einem Traumteam in einer Stadt, die ich liebe. Winter im schönen Quebec. Aber auch die kältesten Wochen meines Lebens", fasst Ward die Sessions zusammen. Dennoch scheint sich beim Hören der Stücke ein Sternenhimmel über dem Hörer auszubreiten, der eher an eine klare Sommernacht als an einen eisigen Winter erinnert.
In der Tat hat das Album etwas Tröstliches. Und Poetisches, wie sich am Cover "Along The Santa Fe Trail" zeigt, das Glenn Miller 1940 aufgenommen hatte. "Angels come to paint the desert nightly / When the moon is beaming brightly / Along the Santa Fe Trail". Da möchte man doch glatt seine vier Wände und Gewohnheiten hinter sich lassen. Und auf Reise gehen.
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