laut.de-Kritik
Für einen Moment ist einfach alles okay: Matisjuhuuu!
Review von Jakob HertlDer Sommer steht vor der Tür und Matisyahu liefert den perfekten Soundtrack. Für sein gleichnamiges siebtes Studioalbum nahm sich der New Yorker Sänger fünf Jahre Zeit. Die Mühe war es mehr als wert, die Platte setzt traditionellen Reggae außergewöhnlich modern in Szene und verpackt emotionale Texte in ein leichtfüßiges, sommerliches Gewand.
Im Auftaktsong beschreibt es Matisyahu direkt passend: "I'm Not Regular." Nein, normal wäre tatsächlich nicht das erste Wort, das mir zu seiner bisherigen Lebensgeschichte einfällt. Im Teenageralter schnappte er sich seinen Rucksack und startete kurzerhand einen Selbstfindungstrip quer durch die USA, lebte später eine Zeit lang nach strengen jüdischen Regeln, mittlerweile führt er ein vergleichsweise unspektakuläres Leben – mit seiner zweiten Frau, sechs Kindern und drei Hunden. Eine ganz schön ereignisreiche Geschichte, vieles davon verarbeitet er nun in "Matisyahu".
In "AM_RICA" knöpft er sich seine Heimat vor. Es geht um den Widerspruch und die Kluft zwischen Amerika als Land der Träume und Möglichkeiten, gleichzeitig aber auch Amerika als Land der Unterdrückung. Die Dualität drückt sich in Zeilen wie "America, a miracle" aus, die Zeilen wie "Slave to the ways of an empty nation" gegenüberstehen. Den Ausweg aus der manchmal verrückten Welt, in der wir leben, hat er am Ende in "When The Smoke Clears" parat: "Music is the only thing in this crazy world that makes sense to me." So schließt sich der lyrische Kreislauf der Platte mit der klugen Erkenntnis: Musik ist eben immer noch die schönste Nebensache der Welt.
Zwischendurch wird Matisyahu sehr persönlich. "Not Regular" behandelt den Kampf gegen seine inneren Dämonen: "Don't let the demon get you / He didn't invent the wheel and he can not protect you." In "Lonely Day" geht es um einen spirituellen Moment in seiner Jugend, der sein Leben veränderte, wie er uns im Interview erklärt: "In der ersten Strophe spreche ich über eine Erfahrung mit Gott, und am nächsten Tag hänge ich mit meinen Freunden ab und alle rauchen Blunts und trinken, als wäre nichts passiert. Für mich fühlte es sich an, als hätte sich mein ganzes Leben verändert, und für alle anderen war es genau dasselbe - und das war ein einsamer Tag."
Den deepen, sehr emotionalen Stil der Lyrics kennt man bereits von früheren Alben wie "Akeda" oder "Undercurrent". Was "Matisyahu" unterscheidet – und unfassbar aufwertet – ist die Tatsache, dass sich neben schweren Texten auch wieder positive Zeilen gesellen. Beispielsweise in "Keep Coming Back For More" oder "Mama Please Don't Worry", in denen er die bedingungslose Liebe zu seiner Familie auf zärtliche Weise ausdrückt. Oder auch in "Music Is The Anthem", der seine neugewonnene, innere Zufriedenheit verdeutlicht: "First time in a while that I haven't felt tired / When my kids make me smile, nothing make me feel higher."
Genau so habe ich Matisyahu auch im Interview erlebt: Ein tiefenentspannter Typ, mit einer extrem gelassenen Ausstrahlung, sehr positiv – positiver als man bei manchen Zeilen vermuten könnte. Diese grundoptimistische Einstellung machen nicht zuletzt die musikalischen Elemente sichtbar. Auch unter diesem Aspekt ist "Matisyahu" eine Platte der Rückkehr. Der Rückkehr zum fröhlichen Reggae-Sound, mit dem der US-Amerikaner seine Karriere vor 18 Jahren startete.
Die traditionellen Roots-Reggae Sounds treffen auf Einflüsse aus Dancehall, Hip Hop und Pop, aber auch ein ausgeprägter Ambient-Style ist den Songs nicht abzusprechen. Matisyahu hat sich aus all diesen Genres einen Teil herausgegriffen und schafft so einen ganz eigenen Klang. Sanfte Synthies, Plucks und Gitarren, die Drums und Percussions mal Upbeat, mal ganz unaufgeregt und dazu meist ein sommerlich warmer Bass im Untergrund. Das Produzentenduo Salt Cathedral hat ganze Arbeit geleistet. Gesanglich ist "Matisyahu" seine bisher beste Platte. Dass er nebenbei auch noch rappen kann, belegen Tracks wie "Flip It Fantastic" mühelos.
Als Highlights sind "Chameleon" und "Tugboat" hervorzuheben. Der Reggae-Fokus transportiert Feel Good-Vibes und bringt den Sommer, selbst wenn die Sonne nicht scheint. Beim Hören denke ich aber nicht an einen stereotypischen Jamaikaner mit Rasta-Locken am Strand, ich denke auch nicht an einen 42-jährigen Ami-Sänger – eigentlich denke ich an gar nichts. Eigentlich bin ich einfach nur glücklich.
Deswegen mein Tipp für diesen Sommer: wenn ihr mit der Sonnencreme mal wieder nicht an die schlimmsten Stellen am Rücken rankommt, wenn euch das Eis aus der Waffel fällt, wenn ihr euch bei 40 Grad im Schatten im Auto am Gurt die Hände verbrennt, wenn es aus dem Nichts anfängt zu gewittern, sobald der Grill heiß genug für die ersten Würstchen wäre: nicht verzagen! "Matisyahu" aufdrehen und einfach mal zurücklehnen. Wie er es in unserem Gespräch selbst formulierte: "Entspann dich, Junge. Ist doch alles okay." Ja, wenn seine Platte läuft, ist für einen Moment wirklich einfach alles okay.
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