laut.de-Biographie
Matisyahu
Manche Verbindungen erschließen sich nicht sofort. Um zu erkennen, wie Reggae und orthodoxes Judentum Hand in Hand gehen, muss man schon genauer hinsehen - oder man macht es sich einfach und schenkt Matisyahu Gehör. Er schlägt die Brücke zwischen Judaismus und Rastafari-Kultur so mühelos, als sei von höherer Stelle nie eine andere Kombination vorgesehen gewesen.
Matthew Paul Miller kommt am 30. Juni 1979 in West Chester in Pennsylvania zur Welt. Wenig später übersiedelt die Familie nach White Plains, New York. Hier wächst Matthew auf. Die Eltern, jüdisch nur auf dem Papier, rechnen sich eher der Hippie-Bewegung zu. Religion spielt im Hause Miller keine Rolle.
Das ändert sich, als der 16-jährige Sohn einen Austausch-Aufenthalt in Israel absolviert. Hier kommt er zum ersten Mal mit den Lehren des chassidischen Judentums in Kontakt. Wieder zu Hause, zeigen die Denkanstöße Wirkung. Matthew bricht wenig später die Schule ab und begibt sich, ausgestattet mit Rucksack und Musik im Ohr, auf einen Selbstfindungstrip quer durch die USA.
Colorado, Oregon (wo er eine Garage-Band gründet) und New York City heißen einige Stationen auf seiner Reise. Irgendwo unterwegs ereilt den Wanderer dann die Erleuchtung: Nicht zuletzt die altestamentarischen Motive in zahlreichen Bob Marley-Tunes öffnen Matthew die Augen für die Parallelen zwischen dem Judentum und dem Rastafarismus: Beide Religionen fußen auf Spiritualität und dem unverbrüchlichen Glauben an Gott. Matthew beginnt, selbst Reggae zu spielen. Erste Auftritte als MC Truth verzeichnet er in den Reihen der MC Mystic's Soulfari Band.
Nach der unsteten Zeit sehnt sich Matthew nach einem Lebensstil, der mehr Halt zu bieten hat. Im Alter von 20 Jahren zieht er in eine jüdische Kommune in Brooklyn, befasst sich mit den Grundlagen des Chassidismus und dem Studium der Thora.
Matthew entscheidet sich für ein Leben nach strengsten religiösen Regeln und nennt sich nun Matisyahu. Die hebräische Entsprechung seines Namens trägt übersetzt die Bedeutung "Geschenk Gottes". Matisyahu tritt gemeinsam mit der jüdischen Band Pey Dalid auf.
Musik wird im chassidischen Glauben als "Feder der Seele" betrachtet und ist, da sie in der Lage ist, Menschen weit tiefer zu berühren, als es Worte vermögen, mit Vorsicht zu genießen. Obwohl Matisyahu drastische Beschränkungen auferlegt werden, arbeitet er bereits während seiner Studien der Heiligen Schrift an seinem ersten Album.
"Shake Off The Dust ... Arise" erscheint in den USA 2004. Als maßgebliche Einflüsse zählt Matisyahu Bob Marley und Phish, aber auch Rabbi Shlomo Carlebach auf. Gesang und Raps sind in Englisch gehalten, gelegentlich fließen einzelne hebräische oder jiddische Worte ein. Matisyahu zelebriert "chassidischen Reggae", die Musik entsteht stets im Austausch mit den begleitenden Musikern.
Der Spagat zwischen orthodoxem Glauben und dem Dasein als Frontmann einer Reggae-Band ist nicht immer leicht zu bewerkstelligen. Auftritte an Freitagabenden kommen nicht in Frage, der Sabbat muss eingehalten werden. Eine Stage-Diving-Einlage nach einem Auftritt liefert sowohl Ehefrau Tahlia als auch dem zuständigen Rabbi Anlass zur Rüge.
So gehts nicht, schließlich befinden sich fremde Frauen im Publikum - und Berührungen zwischen Mann und Frau sind ausschließlich Eheleuten vorbehalten. Es wird nicht wieder vorkommen: Das Bad in der Menge, das in einem Video für die Nachwelt festgehalten wurde, soll das letzte gewesen sein.
Dennoch profitiert Matisyahu - nicht nur spirituell - von seiner Religion. Die konservative Kleidung und der lange Bart verleihen ihm ein auffälliges Äußeres, das stutzig macht: "Mit diesem Überraschungseffekt erreichst du die Leute."
Die nächsten Monate bestimmen ausgiebige Touren gemeinsam mit der Backing-Band Roots Tonic. Der Versuch, die Energie der Live-Auftritte aus eineinhalb Jahren einzufangen gelingt: "Live At Stubb's" erscheint im November 2005 und katapultiert sich an die Spitze der iTunes-Charts. Über 500.000 verkaufte Einheiten alleine in den USA vergolden das Album. Matisyahu und Band sind erstmals auch in Deutschland zu Gast.
Nach "Live At Stubb's" ist der Kopf frei für ein weiteres Studioalbum. "Youth" (sowie die zugehörige Version "Youth Dub") erscheint im März 2006. An den Reglern sitzt Reggae- und Dub-Legende Bill Laswell, der vorher mit Sly & Robbie, Bootsy Collins, Iggy Pop, Miles Davis, Peter Gabriel und unzähligen anderen im Studio saß.
Unnötige, dennoch willkommene Schützenhilfe bekommt dieser von Ill Factor (Ginuwine) und Jimmy Douglas (Missy Elliott, Destiny's Child, Jay-Z) - die Professionalität des Sounds steht somit außer Frage.
Der musikalische Kosmos von "Youth" umfasst sachte Akustikgitarrenstücke ebenso wie afrikanische Rhythmen, Hip Hop-Beats und -Bässe, Rootsreggae, Dub und Beatbox-Elemente, alte Traditionen und moderne Sounds. Als Single koppelt Matisyahu "King Without A Crown" aus, das in einer Liveversion bereits auf dem Vorgänger-Album zu hören war.
Inhaltlich setzt "Youth" (the engine of the world!) fort, was auf "Shake Off The Dust ... Arise" begonnen wurde, nur geht Matisyahu hier noch mehr in die Tiefe: Er verbreitet über die Vibes von Hip Hop und Reggae seine Botschaft von Peace, Love and Unity.
2008 nimmt sich Matisyahu eine Auszeit vom Tourleben, um an neuen Songs zu arbeiten. "Light" erscheint 2009 und spiegelt - neben dem jahrelangen Tora-Studium - eine noch größere musikalische Aufgeschlossenheit wider. Das Etikett "Reggae" genügt längst nicht mehr, um alle Facetten Matisyahus abzudecken. Dancehall, Rock, Folk, Singer/Songwritertum und Spuren von Pop finden ihren Platz.
Im Dezember 2011 schockt Matisyahu den strenggläubigen Teil seiner Fangemeinde, indem er per Twitter ein Bild von sich verbreitet, das ihn glattrasiert und mit geschnittenem Haar zeigt. In einem beigefügten Statement erklärt er, warum der chassidische Reggae-Superstar fortan Geschichte ist:
"Als ich vor zehn Jahren religiös wurde, war das ein ganz natürlicher, organischer Prozess. Es war meine freie Entscheidung: Ich wollte meine Wurzeln entdecken und jüdische Spiritualität erfahren, nicht nur aus Büchern, sondern im richtigen Leben."
Er habe die festen Regeln gebraucht, so Matisyahu. Die neue Mission laute aber, nun sich selbst zu entdecken. Seine Religion verschiebt er von der Bühne künftig wieder in sein Privatleben.
"Freut euch auf ein Jahr voller Musik der Wiedergeburt", stellt er zugleich in Aussicht. Die kredenzt er 2012 auf "Spark Seeker". Mit einem knappen Dreivierteljahr Verspätung, dafür aber um eine EP mit Akustik-Versionen angereichert, ist die Platte Anfang März 2013 auch in Deutschland offiziell zu haben.
Puristisch fällt dann 2014 der Nachfolger "Akeda" aus. Experimentierfreudig war Matisyahu schon immer, doch nach "Spark Seeker" geht er den eingeschlagenen Weg konsequent weiter. Das zeigt sich besonders deutlich auf der 2017 erschienenen LP "Undercurrent". Fast kein Offbeat, viel Rock. Lange und schwere Songs, die das Innerste nach außen kehren. Es ist ein neuer Sound, den der Sänger gefunden hat.
Eins gilt jedoch nach wie vor: "Ich möchte, dass meine Musik eine Bedeutung hat, dass sie die Menschen berührt und sie zum Nachdenken anregt. Meine Musik soll die Welt zu einem besseren Ort machen, kein übergroßes Ego und kein weltliches Verlangen soll diese Kommunikation stören. Das ist mein Ziel. Ich habe es noch nicht erreicht, aber ich bin auf einem guten Weg."
Diesen Weg setzt er auch in den folgenden Jahren fort. Vor allem persönlich bringt ihn die Corona-bedingte Auszeit voran: er heiratet ein zweites Mal, bekommt zwei weitere Kinder, mittlerweile ist die Matisyahu-Family also auf insgesamt elf Mitglieder angewachsen - inklusive dreier Hunde. Die Zeit, die er während der Pandemie für seine Liebsten hat, stellt sich als echter Glücksgriff heraus: "Zuhause bei meiner Familie zu sein macht mich viel glücklicher, als ich es mir jemals hätte vorstellen können", erzählt er 2022 im laut.de-Interview.
Das drückt sich nach fünf Jahren Release-Pause auch im siebten Studioalbum 2022 aus. Auf "Matisyahu" bewahrt sich der Sänger die nachdenklichen Texte, besinnt sich aber auch wieder auf die fröhliche Reggae-Musik seiner Anfänge. So entsteht ein sommerlicher Potpourri aus Reggae, Dancehall, Hip Hop und Pop. Es eine Wiederkehr, eine Rückkehr, ganz bestimmt aber kein Ende. Oder in seinen eigenen Worten: "Es gibt keinen Rücktritt vom Leben."
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