laut.de-Kritik
Krautrock-, Elektronik- und Chillout-Perlen sowie ein neues Album.
Review von Toni HennigZusammen mit Klaus Dinger erschuf Michael Rother bis Mitte der 70er-Jahre mit den ersten drei Neu!-Alben etwas völlig Unerhörtes. Danach konzentrierte er sich vermehrt auf Harmonia, seinem gemeinsamen Projekt mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius von Cluster. Das beeinflusste zahlreiche Künstler, etwa Aphex Twin. Im Anschluss brachte es der Gitarrist und Elektroniker mit seinen ersten vier Soloplatten, die Herbert Grönemeyers Label Grönland Records letztes Jahr zum Boxset "Solo" bündelte und um eine Menge rarer Stücke ergänzte, zu kommerziellem Erfolg. Auf ihnen wirkte Schlagzeuger Jaki Liebezeit von Can mit.
Nach "Fernwärme" von 1982, das der Musiker als erstes Werk komplett in Eigenregie produzierte, endete die Zusammenarbeit mit dem Drummer. Der geborene Hamburger wollte klanglich zu neuen Ufern aufbrechen. Welches musikalische Neuland er nach und nach betrat, das lässt sich nun mit dem Boxset "Solo II" nachverfolgen. Das enthält nicht nur sämtliche Platten von "Lust" bis "Remember (The Great Adventure)", sondern auch noch zahlreiche Bonus Tracks und ein völlig neues Studioalbum namens "Dreaming". Die Veröffentlichung fällt zusammen mit Rothers 70. Geburtstag.
Als einer der ersten deutschen Musiker versuchte sich der Gitarrist und Elektroniker auf "Lust" (4/5) von 1983 an einem Fairlight CMI Synthesizer. Zusätzlich nutzte er bei den Aufnahmen noch Sampler. Am Ende bleibt ein recht fröhliches, melodisches Werk, das mit seinen naiven, verspielten Synthie-Melodien begeistert. Die melancholischen Gitarrentöne setzt Michael Rother eher sparsam ein. Die Platte könnte man sich auch gut als Soundtrack zu einem Retro-Videospiel vorstellen. Mit "Pulsar" enthält sie auch ein wunderbar hypnotisches Stück.
Auf dem folgenden "Süßherz Und Tiefenschärfe" (3/5), das zwei Jahre später erschien, kombinierte der Musiker dann den Fairlight CMI Synthesizer mit MIDI-Sequenzen. Das kommt vor allem "Tiefenschärfe" zu Gute, wenn man von einer Sequenz zur nächsten rauscht. Die tranceartige Rhythmik des Tracks war damals visionär und reißt auch heute noch mit. Unbedingter Anspieltipp. Nur in einer Nummer, in "Süßherz", dominiert auch mal die Gitarre. Sie verdeutlicht, dass man den filmischen Aspekt in Rothers Musik nicht unterschätzen sollte, erzeugen die Saitentöne doch wehmütige Bilder, die eine ruhige deutsche Produktion im Arthaus-Stil unterlegen könnten.
Der Rest knüpft nahtlos an den Vorgänger an, ohne jedoch dessen Charme zu erreichen. Mit "Blaues Licht" findet sich zwar noch eine schöne, unaufgeregte Ambient-Nummer, aber die restlichen Songs übertreiben es ein wenig mit der Naivität, allen voran das ziemlich entbehrliche "Daisy" mit seiner nervigen Kindermelodie. In Hinblick auf die ersten beiden Stücke wäre also deutlich mehr drin gewesen.
Da macht es der Nachfolger "Traumreisen" (4/5) von 1987 viel besser. Dort steht nämlich der filmische Aspekt noch mehr im Vordergrund. Zwar bleibt der synthetische 80er-Jahre-Sound Geschmackssache, aber wenn Rother mit zurückhaltenden Gitarrenklängen die Schlichtheit der Melodien unterstreicht, dann kann man sich der Schönheit dieses Werkes nur schwer entziehen. Dabei wird es wie in "Gloria" auch mal richtig euphorisch, wenn sich die angezerrten Saitentöne jubilierend gen Himmel schrauben.
Leider hatte im Ausland, wo seine Platten bis dato ziemlich beliebt waren, kaum jemand von dem Album Notiz genommen. Hierzulande sank Rothers Stern schon weitaus länger. Zu einem weiteren geplanten Werk kam es in den beginnenden 90ern nicht mehr, da ein Label nach dem anderen seine Songs ablehnte. Nach seinen negativen Erfahrungen mit der Musikindustrie hob der Gitarrist und Elektroniker 1993 mit Random Records eine eigene Plattenfirma aus der Taufe, um die volle künstlerische Kontrolle über seine Musik zu besitzen. Die Stücke verstreute er auf verschiedenen Wiederveröffentlichungen seiner Soloscheiben.
Die gibt es jetzt als Bonus Tracks (3/5). Rother hat sie so angeordnet, dass sie ein vollwertiges Album ergeben. Jedenfalls gehört das unheimlich melancholische und bildhafte "The Doppelgänger" durch die sparsam eingesetzten Akkorde und Drums mit zum Schönsten und Atmosphärischsten, was der Gitarrist und Elektroniker je aufgenommen hat. In "Silencio" hört man sogar typische Neu!-Grooves, die auch direkt von "Neu '75" hätten stammen können. Das trancehafte Ambient-Stück "Unterwasserwolken" stellt ebenso ein Highlight dar.
Dazwischen begegnet man einer etwas merkwürdigen Mischung aus Chillout- und Trance-Klängen sowie Weltmusik-, Techno- und Industrial-Anleihen, die leider niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken, aber auch ein paar hörbaren Gitarrennummern.
Mit "Esperanza" (4/5) realisierte der Musiker in den 90ern noch ein Studioalbum, das er dann 1996 auf seinem Label veröffentlichte. Größtenteils setzt es sich aus rund dreiminütigen Skizzen zusammen. Das erweist sich jedoch nicht als Nachteil, laden die leichtfüßigen und sommerlichen Chillout-Töne doch zum Träumen ein. An einigen Stellen knüpft die Platte klanglich an "Traumreisen" an, nur ohne das allzu Synthetische. Auf jeden Fall eine tolle Alternative zu den damals beliebten Café Del Mar-Compilations.
Danach hatte Rother, der sich hauptsächlich als Studiomusiker betrachtete, endlich mal wieder Lust, Bühnenluft zu schnuppern. Im Rahmen der KOMM 98 sah man ihn 1998 in Düsseldorf nach 22-jähriger Bühnenabstinenz wieder live. Auf Vermittlung von Herbert Grönemeyer kam es auch zu einer Versöhnung mit Klaus Dinger, mit dem er sich lange Zeit nicht über die Lizenzbedingungen für die CD-Veröffentlichungen der Neu!-Studiowerke einigen konnte. Jedenfalls schafften die beiden Streithähne ihre Differenzen aus der Welt und remasterten zusammen für Grönland Records die ersten drei Neu!-Platten. Die erschienen 2001 und waren nicht ganz unschuldig an dem Krautrock-Revival nach dem Millenium.
Dadurch rückte Rother auch wieder mehr in den öffentlichen Fokus und bekam prominente Verehrer wie John Frusciante von den Red Hot Chili Peppers dazu, den er auch live begleitete. Neue Inspiration für seine Musik hatte er da schon längst gefunden. Es war nämlich 1997 in einer kleinen Bar in Hamburg, als er zufällig zu einem Konzert einer völlig unbekannten Sängerin namens Sophie Williams stieß und sich von ihrem Gesang so verführen und mitreißen ließ, dass er sie in sein Studio in seinem damaligen Zweitwohnsitz in der Hansestadt einlud, um an gemeinsamen Skizzen zu basteln.
Bis zum Jahre 2004 arbeitete er noch unabhängig von ihr an weiteren Skizzen. Am Ende standen über siebzig Rohentwürfe. Die formulierte der Musiker für das im selben Jahr auf seinem Label veröffentlichte "Remember (The Great Adventure)" (3/5) zu vollwertigen Tracks aus. Williams' federleichte Stimme zieht sich durch die meisten Stücke. Ab und an brummelt Herbert Grönemeyer etwas im Hintergrund. Das stört zwar nicht, plätschert aber auch ein wenig zu gefällig vor sich hin. Da klingen die tranceartigen Grooves hier und da, die sich mit Neu!-artigen Harmonien gelungen verbinden, schon viel interessanter. Als Anspieltipp sei das wunderbar vor sich hinpluckernde "Energy It Up (Part 2)" genannt.
Im Anschluss fand Rother wieder so sehr Gefallen am Livespielen, dass er seinen Hauptwohnsitz im niedersächsischen Forst, wo er schon 1976 hinzog, eher zum Ausruhen von den Tourneen nutzte, als noch einen einzigen Gedanken an eine neue Platte zu verschwenden. Das änderte sich schlagartig mit der Corona-Pandemie, die im Frühjahr dieses Jahres Deutschland erreichte. Plötzlich hatte der Gitarrist und Elektroniker einen leeren Terminkalender und war von seiner jetzigen Ehefrau, die in Italien lebt, pandemiebedingt getrennt. So kam ihm aus einem melancholischen Gefühl heraus der Impuls, einige "Remember"-Skizzen zu Ende zu bringen. Zudem sorgten seine nächtlichen Träume für Inspiration. Am Ende steht "Dreaming" (4/5).
Auf dem Album greift Rother im Gegensatz zum Vorgänger auch mal wieder zur Gitarre. Die bettet er in die warme Produktion aber nur begleitend und akzentuierend ein. Der Musiker besinnt sich überwiegend auf seine ruhigen Tugenden. So kommt die betörende Stimme Sophie Williams' noch besser zur Entfaltung als auf "Remember (The Great Adventure)".
Mit dieser Scheibe zeigt Rother, dass er auf Albumlänge dann am besten ist, wenn er einer spezifischen Idee nachspürt, wie etwa auf "Traumreisen". "Dreaming" erscheint wie ein ausformuliertes, in sich geschlossenes und zeitloses Update der 1987er-Platte. Ein richtig schönes Werk letzten Endes. Im Grunde der eigentliche Schatz von "Solo II".
Zwar fehlt den Alben ab "Lust" die rockige Energie der ersten vier Rother-Platten. Dass der Gitarrist und Elektroniker aber auch richtig wild sein kann, davon kann man sich hoffentlich 2021 bei einem oder mehreren seiner Livekonzerte überzeugen. Somit bieten sich für den Einstieg in die Diskografie des Musikers die frühen Neu!-Scheiben und "Solo" eher an denn dieses Boxset, das sich eher an fortgeschrittene Hörer richtet. Die bekommen dafür die ein oder andere zu Unrecht vergessene Perle.
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