laut.de-Kritik
Sie geht den Radiohead-Weg.
Review von Dennis RiegerIndie-Thronanwärterin Mitski nimmt die Akustikgitarre zur Hand und säuselt im besten Sinne über die Einsamkeit. Das lyrische Ich greift zur Flasche und gesteht sich die eigene Sucht ein: "As I got older, I learned I'm a drinker / Sometimes a drink feels like a family." Nicht nur ein Klavier veredelt später den Song, sondern auch ein Gospelchor. Doch auch mit göttlicher Hilfe kann die Sucht nicht überwunden werden: "I try to remember the wrath of the devil / Was also given him by God." Americana at its best. Der Opener "Bug Like An Angel" gibt im Großen und Ganzen vor, was uns musikalisch und lyrisch auf "The Land Is Inhospitable And So Are We" erwartet.
Die auf den beiden unmittelbaren Vorgängeralben "Be The Cowboy" und "Laurel Hell" gelegentlich erfolgten Flirts mit Synthies sind im Jahr 2023 passé. Auch Freunde der schnellen Saitenarbeit kommen nicht auf ihre Kosten. Mitski fährt die Geschwindigkeit dauerhaft nach unten, präsentiert uns auf ihrem siebten Album fast ausschließlich Balladen. So ruhig ging es zuletzt auf ihren ersten beiden Alben zu.
Handelte es sich insbesondere beim Debüt "Lush" noch um großteils spärlich instrumentierten Kammerpop, ist die dritte Mehr-oder-weniger-Balladensammlung in Mitskis Diskografie sehr dicht instrumentiert. Ein Cello, ein Waldhorn, eine Bratsche, Geigen und Holzbläser werden – zumeist bereichernd und nie kitschig – eingebunden.
Auf "Buffalo Replaced", einem hervorragend gesungenen und vergleichsweise flotten Midtempo-Ohrwurm mit finalem instrumentalem Ausbruch, zeigt sich Mitski in lyrischer Hinsicht ungewohnt kryptisch – nicht zum letzten Mal auf dem Album. Ging es in der Vergangenheit in ihren Texten, die sich fast immer um körperliche Sehnsucht, Sex, verflossene Liebe und Einsamkeit drehten, meist sehr direkt zu, verlagert sie nun den Fokus gänzlich auf das Alleinsein, präsentiert sich aber gleichzeitig lyrisch ambitionierter als zuvor.
Nicht immer trauert das lyrische Ich einer verflossenen Liebe nach. So scheint "The Frost", ein aufgrund von Fats Caplins Einsatz einer Pedal-Steel-Gitarre countryähnlicher Song, von der Einsamkeit nach dem Auseinanderbrechen einer Freundschaft zu handeln. Häufig beschreibt Mitski unter Bezugnahme auf die Natur die Seelenzustände des lyrischen Ichs, singt über eine gekrümmte Eiche, einen murmelnden Bach und – im gleichnamigen Song – den Frost vor dem Haus. Das geschieht nicht nur angenehm unprätentiös, sondern auch sprachlich sehr gewandt und kreativ. In instrumentaler Hinsicht liefert Mitski auf gewohnt hohem Niveau ab, in lyrischer Hinsicht erreicht sie neue Höhen.
Die kreativste und gleichzeitig schönste Beschreibung des Alleinseins gelingt Mitski in "I Don't Like My Mind": "I don't like my mind, I don't like being left alone in a room / With all its opinions about the things that I've done", beschreibt Mitski die Selbstvorwürfe des lyrischen Ichs, das an einem einsamen Weihnachtstag frustriert zugreift. Zur Flasche? Zum Joint? Nein, zum Kuchen: "So, yeah, I blast music loud, and I work myself to the bone / And on an inconvenient Christmas, I eat a cake." Und zwar den gesamten Kuchen, bis sich das lyrische Ich übergeben muss: "And then I get sick and throw up and there's another memory that gets stuck / Inside the walls of my skull waiting for its turn to talk."
Mitski erweist sich auf ihrem siebten Album als Meisterin der Verbalisierung von Alltagsszenen vereinsamter und sinnsuchender Menschen. Dabei ist das Album – anders als man aufgrund seines Titel vermuten könnte – nie depressiv, weder in musikalischer noch in lyrischer Hinsicht. Es regiert die Nachdenklichkeit auf den ersten Sprossen der nach oben offenen Melancholieleiter.
Über "My Love Mine All Mine" müssen nicht mehr viele Worte verloren werden. Bei nach drei Monaten mehr als 18 Millionen erfolgten YouTube-Aufrufen allein für das Musikvideo und einem wochenlangen Verharren unter den fünf meistgehörten Songs der Spotify-Charts handelt es sich bekanntlich nicht immer um musikalische Gütesiegel. In diesem Fall aber sind die Aufrufe durch die herausragende Qualität der Pianoballade über den Wunsch nach einer auch den Tod überdauernden Liebe erklärbar. Auch hier zeigt sich Mitski mit schönen Sprachbildern in textlicher Hochform: "Moon, tell me if I could / Send up my heart to you? / So, when I die, which I must do / Could it shine down here with you?" Zweifellos trotz starker albuminterner Konkurrenz das Highlight der LP! "I'm Your Man" kristallisiert sich im Laufe der Hördurchgänge mit einem geschmackvollen Chor, Grillenzirpen und Hundegebell als weiterer atmosphärischer Albumhöhepunkt heraus.
Zumeist gelingt ein songdienlicher Einsatz klassischer Instrumente, etwa in "Heaven". Wenige Gegenbeispiele trüben das Gesamtbild jedoch. "Star" trägt mit einem Cello, einem Waldhorn, einer Trompete, einer Bratsche und Holzbläsern nebst flächigen Keyboards ein bisschen arg dick auf, "When Memories Snow" erst recht. Der Albumcloser "I Love Me After You" wirkt indes nicht durch den Einsatz klassischer Instrumente, sondern durch Reverb auf den Vocals und zu viele Tonspuren überproduziert.
Die stilistische Entwicklung Mitskis von ihrem Debütalbum bis zu "Laurel Hell" unterschied sich nicht von der vieler anderer Künstlerinnen und Künstler: Es wurde mit den Jahren peu à peu rockiger, die Anzahl der Uptemposongs stieg stetig an, die Keyboards wurden präsenter, bei "Nobody" und "Washing Machine Heart" handelte es sich schließlich um (tolle) massentaugliche Synthiepopsongs. Diese bis dato geradlinige Entwicklung, welche entgegen der Unkenrufe der Indie-Polizei nicht zulasten der Qualität ging, stoppte Mitski in diesem Jahr, verlagerte den musikalischen Fokus eindeutig auf Balladen – und gewann dadurch nicht nur musikalisch, sondern, vor allem dank "My Love Mine All Mine", auch kommerziell. Sie schlug (vorübergehend?) den seltenen Radiohead-Weg ein, zeigte, dass man sperriger und noch besser werden und gleichzeitig die Anzahl der Hörerinnen und Hörer erhöhen kann.
Mitski widerlegt mit ihrem bisher musikalisch homogensten und (mindestens) textlich besten Album eindrucksvoll die Theorie, dass ein Ankommen im Mainstream für Künstlerinnen und Künstler stets über musikalische Zugeständnisse und lyrische Verflachung zustande kommt. Die Indie-Polizei kann die Handschellen wieder einpacken.
7 Kommentare
Exzellent ♥
Nötigt mir mit jedem weiteren ihrer Würfe immer noch ein Quäntchen mehr Respekt ab, wie sie seit gefühlt 5 Alben hintereinander einfach künstlerisch NIX falsch machen kann, indem sie kommerziell gesehen beinahe alles falsch angeht.
Die persuasive Plusperson in einem Betätigungs- und Geschäftsfeld voller Minusmenschen.
"Die kreativste und gleichzeitig schönste Beschreibung des Alleinseins"
Du hast "plakativ as fuck" falsch geschrieben.
Musik ist okay, klingt halt wie x-beliebiger Indie-Country Genrestandard. Haben Laura Marling, Angel Olsen und zig andere bereits zur Genüge abgefrühstückt.
Liebe dieses Album sehr. Hier mehr dazu: https://youtu.be/DbGk_bWmt8A?si=lqyNhLq7YB…
Mir gefallen die Gesangsmelodien nicht: viel zu pathetisch. Die schwülstigen Begleitung-Arrangements finde ich ebenfalls ziemlich schrecklich. Nicht mein Geschmack.
Ich hab mich ein, zweimal ziemlich erschreckt beim Hören.