laut.de-Kritik
"62 Millionen Migrationen, wo komm' wir hin wenn alle hier wohnen?"
Review von Paula IrmschlerMittekill, einst als "Neukölln-Hipster" verbrämtes Duo aus der Hauptstadt, besteht seit nunmehr vier Jahren nur noch aus Friedrich Greiling. Der halbierte Schwulst tut dem Projekt jedoch hörbar gut. Auf dem frischen Label Weltgast ist das Multitalent trotzdem weniger allein als je zuvor und in bester, nämlich eigens montierter, Gesellschaft.
Die besteht im Jahre 2016 für einen kulturpolitischen Typen wie Greiling aus Musikern von überall her und insbesondere Flüchtlingen. "Die Montierte Gesellschaft" klingt urban, sie klingt weltlich, sie klingt offen, sie klingt reich und vielfältig, aber auch kaputt. "Öffnung, Vermischung und Teilhabe werden also groß geschrieben, wenn auch immer noch unter der Leitung eines gewissen Kontroll-Freaks", beschreibt es der Künstler selbst im Booklet.
Musikalisch stehen Schlager-Klänge neben Balkan-Beats und Clubmusik neben Avantgarde, Marschmusik neben Hip-Hop-Versuchen. Da ist Greiling, der Grübelnde und Zynische, Greiling, der Satiriker und Träumer. Konstruiert wurde die Schwungmasse unter anderem in Freiburg, Belgrad, Athen und Berlin. Obwohl Greilings Theatergruppenstimme bisweilen recht nervig ist und die vorgeschobene Naivität bisweilen unglaubwürdig, ist mit "Die Montierte Gesellschaft" ein hymnisches Konzept-Album entstanden, das zum Ende des Horror-Jahres 2016 der Gesamtgrauscheiße wenigstens noch einen kleinen bunten Punkt hinzufügt.
Das Intro "Song For The Warld" bereitet einen instrumental (am Schlagzeug Sven Ulber) auf alles Kommende vor: Ein melancholischer und treibender Rausch. "Herbsttag", ein älterer Song aus dem Bandrepertoire, erzählt zu Balkan-Beats was alles so stört oder erstrebenswert ist: "Wo der Reichtum endet / Wo das Blatt sich wendet / Werden wir die Ersten sein / Die schrei'n nach off'nen Grenzen". Ein bisschen Bauchgefühl, ein bisschen Grüne Jugend, wenig Antworten. Aber das hier ist ja auch Kunst und die muss nicht alles leisten. Balkangefühlig geht es auch weiter im "Spielzeugland", ein Land voller Männer und Schunkeln und Metaphern-Lyrics. Geschenkt.
Verlässt man sich einmal auf etwas, wird es bald wieder verworfen. In "4000 km" plötzlich Geklimper, Posaune, Tuba, Trompete, Saxophon, Geige und endlich eine Frauenstimme, die Dana Dunham gehört. Vertonung des deutschen Behörden- und Kommentarwahnsinns: "62 Millionen Migrationen wo komm' wir hin wenn die hier alle wohnen?". Die Antwort folgt auf dem Fuße, nämlich mit dem nächsten Track, der melodisch an "London Calling" erinnert, aber "Phantom Der Deutschen Opfer" heißt: "Ja du bestimmst ja / Was dich beleidigt / Gefühlte Fakten / Durchfühlte Akten / Totschlag aus Angst / Der Angriff verteidigt".
Auf "ABC" hat Greiling drei geflüchtete Kids zur Aufsagung des Alphabets versammelt und man wünscht, er hätte sich selbst mal etwas zurückgenommen, denn er rappt leider peinlich und ohne seine winkende Zaunpfähle ("Ich kann lesen, du kannst lesen, sie könn' lesen, sieh") wäre ein starkes Stück Musik mit guten Beats und niedlichem Gesang dabei rausgekommen.
Besser gelingt die Zusammenarbeit auf der "Römerhofschule", im wahren Leben eine internationale Schule für Menschen mit Migrationshintergrund, bei der die, um die es geht, tatsächlich mal im Vordergrund stehen. Dabei entsteht Wahrhaftiges: "Als ich neu in Deutschland war / konnte ich kein Wort deutsch / ich fühlte mich wie ein Verlierer / ich war mutlos und enttäuscht". Dass Greiling dann am Besten ist, wenn er die eigene Stimme zurückhält, zeigt sich auch bei genialen Instrumentalstücken wie "Otok" und "Er Soll Sich Nicht Rumschieben Lassen", bei denen er weite Atmosphären schafft, nur um sie wieder zu zerschmettern. Geschlossen wird "Die Montierte Gesellschaft" mit dem schönsten Song des Albums, er heißt "Yusef", genau wie sein Protagonist. Mehr braucht man dazu gar nicht wissen, man muss nur zuhören.
Wer einmal halbherzig ein Soziologie-Seminar besucht hat, weiß, dass sich Gesellschaften verändern, dass sie wachsen und sich ihre Zusammensetzung heterogenisieren kann. Hier hat einer keine Geduld und nimmt die Sache selbst in die Hand. Das wirkt bisweilen gezwungen und noch undurchdacht, ist aber okay. Weil die Alternative nur das Jetzt ist - und das darf so nicht bleiben.
1 Kommentar
ein sehr gutes und wichtiges album! kommt gerade zur rechten Zeit! Yusef läuft hier in dauerrotation. Selten so bewegt worden!