laut.de-Kritik

"Welcome back. It's not the same."

Review von

Eine fiese Frage für "Wer wird Millionär": Wie viele Alben hat Neil Young 2021 veröffentlicht? Im Februar erschien "Way Down In The Rust Bucket", eine Liveaufnahme mit Crazy Horse von 1990, im März "Young Shakespeare", ein Solokonzert von 1971. Im Oktober eröffnete "Carnegie Hall 1970" die neue "Bootleg Series". Im November sollten weitere fünf Alben folgen, im Dezember lassen sie jedoch immer noch auf sich warten. Dafür erscheint kurz vor Weihnachten, pünktlich zu Youngs 76. Geburtstag, neues Material mit Crazy Horse, aufgenommen im Juni 2021.

Die vermutlich korrekte Antwort lautet also "vier", könnte aber noch zu "neun" werden (oder eine Zahl dazwischen), bei Young weiß man es ja nie. Bis dahin lohnt es sich, sein 51. (!) offizielles Studioalbum unter eigenem Namen zu hören. Aufnahmeort und Besetzung waren dieselben wie beim Vorgänger "Colorado" (2019), doch klingt das Ergebnis anders. Was im Wesentlichen auf Nils Lofgren zurückzuführen ist, der Ersatz für Poncho Sampedro, der Crazy Horse 2014 aus gesundheitlichen Gründen verlassen hat. Hielt er sich auf "Colorado" noch dezent im Hintergrund auf, verleiht er den neuen Stücken mit Akkordeon und Klavier eine ganz eigene Note. Wenn er zur Gitarre greift, bietet er Young zudem den nötigen Halt, um sich an seiner verstärkten Gibson auszutoben.

Eine Rückkehr zu den Wurzeln, denn Lofgren war Urmitglied von Crazy Horse, bevor er 1971 auf Solopfade ging und durch Sampedro ersetzt wurde. Seit 1984 ist Lofgren außerdem Mitglied der E-Street-Band. So wundert es nicht, dass der Opener an Bruce Springsteen zu Zeiten von "Nebraska" (oder eher "The Ghost Of Tom Joad") erinnert. Young schrieb das Stück 2020 in Kanada, als er sich mit seiner Frau Daryl Hannah in einer einsamen Hütte aufhielt, eine Ode an die Natur und die Geborgenheit der Zweisamkeit, "Looking through a wavy glass window / In this old place by the lake / In the colors of the falling leaves / I see nature makes no mistake / In the water, as it ripples in the wind".

Mit Akustikgitarre, Ziehharmonika und Lofgrens Akkordeon fühlt man sich in "After The Gold Rush"-Zeiten versetzt. "Heading West" dagegen führt zu "Rust Never Sleeps", mit Akkordfolgen und Gitarrensound, die an "Powderfinger" erinnern. Überhaupt lässt sich auf diesem Album fröhlich herumraten, denn Zitate, ob gewollt oder zufällig, gibt es viele. Ist in "Change Ain't Never Gonna" nicht ein bisschen von AC/DCs "Rock'n'Roll Ain't Noise Pollution"? "Shape Of You" vereint "Honky Tonk Woman" der Rolling Stones mit, ähem, "Rockin' All Over The World" von Status Quo. Dazu eine Prise The Band, die mit "The Shape I'm In" ein Stück mit ähnlichem Titel geschrieben haben.

"They Might Be Lost" klingt wieder nach ruhigem Springsteen. Beim räudigen wie düsteren "Human Race" ("Today no one cares / Tomorrow no one shares / Because they all will be gone, but the children of the fires and floods") kommt vom Thema her Cat Stevens' "Where Do The Children Play" in den Sinn, musikalisch aber auch Black Sabbaths "Children Of The Grave", mit bedrohlichem Gitarrenfeedback zum Schluss. Ganz anders "Tumblin' Through The Years", bei dem Iris DeMents "Let The Mystery Be" Spuren hinterlassen hat.

Undsoweiter. Das beste Stück von "Barn" ist "Welcome Back", in dem sich Young in einem Stream of Consciousness acht Minuten lang über den Sinn des Lebens Gedanken macht und seine Gitarre im Stil Mark Knopflers bedient. Ein Klassiker, der an einen weiteren Klassiker, "Cortez The Killer", erinnert, auch wenn er viel ruhiger ausfällt.

Schön ist auch das Video dazu, das einen weiteren wichtigen Bestandteil der Sessions zeigt: die titelgebende Scheune. Ein Auszug des Films zur Platte, den wie schon davor Daryl Hannah gedreht hat. In idyllischer Umgebung in den Rocky Mountains gelegen, diente sie einst als Raststätte für durchziehende Pferdekutschen und die dazugehörigen Menschen. Zur Ruine verkommen, ließ Young sie wieder aufbauen und stattete sie mit Studioequipment aus.

Im Prinzip hätte Quentin Tarantino dort "The Hateful Eight" drehen können, doch die Stimmung ist genau andersrum: Kein Blut und kein Streit, sondern ausgesprochene Harmonie, sommerliche Temperaturen - und Vollmond, was Young wichtig war. Einige Lieder entstanden spontan oder bei Spaziergängen mit seinem Hund. Die Themen sind die gewohnten - Umweltzerstörung, Erinnerungen an die Jugend und, natürlich, die Kraft der Liebe. Auch thematisiert er die amerikanische Staatsbürgerschaft, die er 2020 erlangt hat, wobei er weiterhin den kanadischen Pass besitzt. "I am Canerican, Canerican is what I am", so seine Wortschöpfung.

Was wären Crazy Horse ohne Bassist Billy Talbot und Schlagzeuger Ralph Molina? Seit 1963 spielen sie zusammen, seit 1969 im Auftrag Youngs. Selten spektakulär, aber immer solide. Wenn der Chef ruft, stehen sie bereit und lesen von seinen Bewegungen ab, ob sie doch noch eine Strophe spielen sollen oder das Stück tatsächlich beendet ist. Wie gewohnt ist das Album live entstanden, wie gewohnt haben Young und seine Truppe im Vorfeld viel Mühe investiert, um den Klang perfekt hinzukriegen. Allein die Auswahl der Röhren für Youngs Verstärker, damit die Gitarre genau so klingt, wie sie klingen soll, nimmt jedes Mal viel Zeit in Anspruch. Vintage, aber nicht antiquiert, denn Young kümmerte sich auch um eine Dolby Atmos-Abmischung, die einen mitten in die Scheune versetzt.

"Alles an 'Barn' ist echt. Es kam von Herzen. Wir haben vielleicht nach einigen Aufnahmen geweint ... vor Glück ... vor Begeisterung ... Wir sind eine Band von Brüdern, wir kennen uns alle seit unseren Anfängen. Wir haben 'Only Love Can Break Your Heart' und 'Southern Man' auf demselben Album aufgenommen. Wir haben 'Round And Round' und 'Down By The River" auf demselben Album aufgenommen. Wir haben 'Don't Forget About Love' und 'Human Race' auf demselben Album aufgenommen. Welcome Back. It's not the same [wie er in gleichnamigen stück singt]. 'Barn' ist womöglich unser bestes Album überhaupt", so Young auf seiner ausufernden offiziellen Webseite.

Über letzteres lässt sich diskutieren. Fest steht aber, dass "Barn" eine wirklich schöne Platte geworden ist.

Trackliste

  1. 1. Song Of The Seasons
  2. 2. Heading West
  3. 3. Change Ain't Never Gonna
  4. 4. Canerican
  5. 5. Shape Of You
  6. 6. They Might Be Lost
  7. 7. Human Race
  8. 8. Tumblin' Thru The Years
  9. 9. Welcome Back
  10. 10. Don't Forget Love

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9 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Ich weiß nicht so recht. Neil Young hat in der Vergangenheit mit Live Rust oder Harvest bewiesen, dass er großartige Alben machen kann, aber das hier klingt für mich ein bisschen wie die Altherren-Bluesjamsession in der Provinzkneipe.

    • Vor 2 Jahren

      Ganz meiner Meinung. Ich wundere nicht auch daß diese Platte überall so hochgelobt wird. Ich finde Mr.Young verliert immer mehr sein Gefühl für eine gelungene Gesangsmelodie. Das war nicht immer so. Aber manche Songs gehen nur unter Vorbehalt ins Ohr.
      Ich habe NY & Crazy Horse sicherlich 6-7 mal live erlebt in den letzten 30 Jahren. Der Druck den diese Band erzeugen konnte, das hypnotische in ihrer Musik ist leider verschwunden. Das mag am Alter liegen. Ich will mich auch gar nicht zu sehr beschweren, dazu haben mir die Jungs schon zuviel schöne Abende verschafft, aber anmerken möchte ich es doch. Vielleicht fühlt ja jemand ähnlich wie ich. That's it

  • Vor 2 Jahren

    Hm. Leider auch nicht meins. Bin ja wirklich großer Fan seiner Alben aus den 70ern und 90ern, aber seit 2000 fand ich nur Prairie Wind wirklich gut. Hab zwar nicht jedes Album gehört, dafür war´s zu viel, aber bei Living with War, The Monsanto Years und Fork in the Road hab ich damals reingehört, und bei denen gings mir wie bei diesem hier: irgendwie alle Trademark-Sounds vorhanden, nur die guten Songs fehlen halt.
    Hat jemand eine Empfehlung, welches Album seit 2000 sich noch lohnt?

  • Vor 2 Jahren

    “Hat jemand eine Empfehlung, welches Album seit 2000 sich noch lohnt?” —> ganz klar Psychedelic Pill!

  • Vor 2 Jahren

    prima Album, aber natürlich gilt auch hier der berühmt/berüchtigte Kommentar Youngs auf die Zuschauerbeschwerde "Alles klingt gleich" - "It's all one song!". :)) Und nebenbei: Rocking All Over The World hat zwar Status Quo nen Hit beschert, ist aber von John Fogerty - wer Neil rezensiert, sollte das wissen...

  • Vor 2 Jahren

    Als Fan seit Ende der Neunziger-Jahre habe ich mich letzten Endes noch mit jedem Neil Young Album anfreunden können. Das neue Album macht es einem aber leichter als so manch anderes. Im Rückblick fand ich bei dem letzten, Colorado, die dazugehörige Doku doch etwas verstörend, da Young und sein Tonmensch Hanlon ziemlich angepisst waren und die Stimmung etwas gedrückt zu sein schien. Trotzdem ist das Album durchaus hörbar.
    Bei Barn merkt man aber die Spielfreude aller. Die Songs kommen Neil Young typisch daher. Es sind nicht mehr die Crazy Horse mit Poncho sondern eher wieder die Crazy Horse der Anfangszeit wo nicht immer Heavymäßig gerumpelt und gestampft wurde. Das gab es wohl zum letzten Mal mit Poncho auf Psychodelic Pill. Tut auch gut ist aber so vorbei.
    Bei mir bleibt durchaus die eine oder andere Melodie hängen. Ich hatte erst zwei Durchläufe (mit Unterbrechungen), aber ich höre die Songs bereits beim lesen der Titel.
    Die Stimme Youngs ist altersbedingt nicht immer auf der Höhe, teilweise brüchig, klingt aber diesmal durchwegs klar und bestimmt. Ich finde besser als auf Colorado und kein Vergleich zu The Times, wo die Hohe Stimme leider komplett schiefliegt.
    Es ist eine sehr kompakte Platte geworden, keine ausufernden Solis. Auf Welcome Back als längster Track ist auf den Punkt. Es stört mich auch nicht, dass manche Lieder ausgefadet werden.
    Und die Produktion ist für mich sowieso ein Traum. Live, dynamisch und doch klar und druckvoll, die Instrumente klingen wie sie klingen. Für manche scheint das billig zu sein, ich finde das ist eine Leistung, dass man das so hinkriegt. Als Musiker weiß ich das auch viel mehr zu schätzen. Die meisten anderen zeitgenössischen Rockplatten sind zwar schön sauber getrennt aufgenommen, um einiges lauter mit viel Kompression und Autotune dafür ohne Dynamik und leben.

  • Vor 2 Jahren

    da hör ich mir lieber Joe Rogan an...