19. August 2019

"Unsere Zivilisation braucht eine Katastrophe"

Interview geführt von

Seit fast 40 Jahren halten Justin Sullivan und seine Mitstreiter von New Model Army entgegen allen Trends trotzig die Independent-Fahnen in die Höhe.

Wie kaum eine andere Band stehen New Model Army für feinsinnige und aufrüttelnde Statements über Ungerechtigkeiten und Politik, die sie in ein musikalisches Gewand aus Zorn und Melancholie verpacken. Genau das bescherte den Briten aus Bradford, Yorkshire weltweit eine stetig wachsende und vor allem unglaublich treue Anhängerschaft.

Am 23. August erscheint, drei Jahre nach "Winter", das neue Album "From Here", auf dem sich NMA so atmosphärisch und direkt wie selten zuvor zeigen. Im Herbst geht es auf eine ausgedehnte Konzertreise durch Europa, dabei werden New Model Army auch hierzulande einige Gigs spielen. Wir haben die Gelegenheit genutzt und uns mit dem Frontmann und einzig verbliebenen Originalmitglied Justin Sullivan zum Telefoninterview verabredet.

Glückwunsch zu eurem fünfzehnten Album "From Here". Es macht echt großen Spaß, die Platte zu hören. Verglichen mit dem energiegeladenen und sehr direkt klingenden Vorgänger "Winter" klingt "From Here" durchaus sehr verschieden ...

... ich denke, dass jedes neue Album von uns eine Reaktion darauf ist, was wir jeweils zuvor gemacht haben. Was immer wir also auch aktuell veröffentlichen, ist vom Grundgedanken gelenkt, das Gegenteil zum Vorherigen zu erschaffen. Dennoch haben wir für "From Here" mit Lee Smith und Jamie Lockhart das gleiche Produzententeam verpflichtet, mit dem wir bereits den Vorgänger "Winter" erarbeitet haben. Wir wollten mit diesen beiden einfach noch mal zusammenarbeiten. Dieses Mal jedoch auf einer wesentlich tieferen Basis, da wir den beiden mittlerweile voll und ganz vertrauen. Sie haben wirklich ein sehr gutes Verständnis dessen, was wir als Band klanglich transportieren wollen.

Wie seid ihr dazu gekommen, "From Here" in der norwegischen Abgeschiedenheit aufzunehmen?

Auch das ist wieder so einer dieser Gegensätze. "Winter" nahmen wir im kleinen, analogen Tonstudio von Lee und Jamie in Leeds auf. Hinsichtlich der neuen Platte waren wir uns aber alle einig, dass wir sie in einem größeren Studio mit offenem und natürlicherem Klangbild aufnehmen wollten. Die beiden erzählten uns vom Ocean Sound Recordings Studio auf der kleinen norwegischen Insel Giske. Zuerst dachten wir, dass wir uns das eh nicht leisten können. Aber dann haben wir uns Bilder vom Studio angesehen und uns war klar, dass wir das Album dort einfach aufnehmen müssen.

Warum? Was ist so besonders daran?

Das Studio befindet sich an einem der spektakulärsten Plätze der Welt. Durch die vielen Fenster dort kannst du jederzeit das Wetter, das Meer mit seinen Gezeiten und die schneebedeckten Berge beobachten. Das Studio selbst ist auch verdammt gut. Der große Aufnahmeraum ist unglaublich. Sie haben wahnsinnig hochwertiges Equipment und außerdem ist es von Musikern erbaut worden. Es ist irgendwie perfekt dort, nicht nur angesichts seiner abgeschiedenen Lage, sondern vor allem auch aus musikalischer Hinsicht.

Ihr scheint euch dort ja echt wohlgefühlt zu haben.

Weißt du, einige Musiker sind der Meinung, man müsse in New York aufnehmen, um am Epizentrum neuer musikalischer Entwicklungen zu sein. Andere wiederum wollen dazu auf die karibischen Inseln fliegen. Aber alle von uns fünf New Model Army-Mitgliedern, wir alle stehen sehr auf trostlose, offene, kalte und leere Landschaften. Lee und Jamie wollten, dass das Album ein Abenteuer wird. Und tatsächlich war alles vom Anreiseweg bis zum Beenden der Aufnahmen irgendwie abenteuerlich. Wir hatten für alles nur neun Tage Zeit, da das Studio sehr beliebt und dementsprechend fast immer ausgebucht ist. Wir haben also unglaublich viel gearbeitet in diesen neun Tagen. Für mich waren es ganz klar die bisher besten Recording-Erfahrungen, die ich je gemacht habe.

Inwiefern?

Lee und Jamie wollten, dass wir nicht hundertprozentig für die Aufnahmesessions vorbereitet sind, da sie einen gewissen Einfluss auf Klanggestaltung und Arrangements haben wollten. Wir hatten für die Songs also nur einen groben Rahmen. Einer der Vorteile des großen Studios war der offene, weit klingende Drum-Sound. Wieder ein Gegensatz zu den Aufnahmen für "Winter". Die Atmosphäre des großen Studioraumes ermöglichte es uns, die für uns fundamentalen Tom Tom-Rhythmen und den typisch treibenden New Model Army-Bass sehr natürlich klingend aufzunehmen. Für den Rest der Musik musst du dir dann natürlich sehr genau überlegen, wie du sie strukturierst. Wenn du einmal die E-Gitarren zu den Tom Toms und dem Bass hinzufügst wird es leider meistens etwas suppig, da dir dabei immer etwas von den Dynamiken innerhalb der Musik flöten geht.

Wie habt ihr die Gitarren dann adäquat im Mix untergebracht?

Vor kurzem nahm ich eine 1970er Martin in die Hand und war plötzlich wieder ganz schön in den Klang akustischer Gitarren verliebt. Überhaupt in den Klang von Gitarren, und das hört man der neuen Platte auch an. Einer der Wege um die Gitarren gut im Gesamtmix unterzubringen war, den Drums und dem Bass jeweils den benötigten akustischen Raum zu lassen und darauf dann die akustischen Gitarren und die clean gespielten Telecasters zu legen. Wir mussten also, zugunsten eines dynamischen Klangbildes, über den gesamten Aufnahmezeitraum alle an einem Strang ziehen und hatten uns dazu auch bereits vor den Aufnahmen einige Gedanken gemacht. Somit war es letztlich ein leichtes, der treibenden New Model Army Rhythmussektion ihren benötigten Raum zu lassen.

Inwieweit haben die trostlosen, rauen, kalten und weiträumigen ruralen Landschaften den Sound auf dem Album beeinflusst?

Wenn du dir unser Repertoire ansiehst, dann findest du in den Songs viele urbane Klangcharakteristiken wie beispielsweise dieses typische "kicking rhythm" Element. Trotzdem ist unsere Musik immer auch von einer gewissen Sensibilität geprägt, die diese großen und offenen Landschaften transportiert. Aber das ist natürlich unserer Herkunft Bradford geschuldet. Wir sind dort von offenen und weitläufigen Moorlandschaften umgeben und deswegen von Szenerien dieser Art mit ihren überwältigenden Naturbildern regelrecht besessen. Man kann also nicht in letzter Konsequenz sagen, wir seien eine urbane Band. Dieses Element war immer schon Teil der Musik von New Model Army. Es reflektiert die Weise, in der wir die Welt und das Leben an sich sehen. Auf "From Here" kommen diese beiden Elemente dominanter als sonst zusammen. Einerseits die energiegeladene, kickende Rhythmusarbeit und andererseits diese großen und sehr dynamischen Landschaftssounds. In gewisser Weise ist "From Here" also ein typisches New Model Army Album, nur eben dieses Mal noch mehr als sonst (lacht).

Deswegen also auch der starke Fokus auf akustische und cleane E-Gitarren, um diese Dynamiken raumfüllender wirken lassen zu können?

Genau. So kannst du die Gitarren von den oberen und mittleren Bereichen des Basses fernhalten und schaffst dadurch auch gleichzeitig akustischen Freiraum. Das betrifft auch das natürliche Timbre meiner Stimme, die in das gleiche Spektrum wie die Rhythmussektion fällt. Es ist also eigentlich nur logisch, die Gitarren aus diesem Bereich Frequenzbereich herauszuhalten. Da trifft es sich ganz gut, dass ich die akustische Gitarre wieder für mich entdeckt habe. Unser Gitarrist Marshall Gill steht sowieso auf diesen Telecaster-Sound und unser Keyboarder Dean White ebenfalls. Er hat auf diesem Album einiges an Gitarrenspuren eingespielt. Der cleane, helle und irgendwie auch aggressive Sound einer Tele passt einfach bestens zu uns.

Du sagst, dass du mittlerweile wieder voll auf den Sound akustischer Gitarren stehst. Wie kam es dazu?

Normal nutzte ich immer Lowden-Gitarren auf der Bühne. Die klingen gut und haben auch einen großflächigen Sound. Aber diese 1970er Martin die ich mir neulich gekauft habe, ist für mich die erste Gitarre, die sich wirklich sehr gut aufnehmen lässt - egal welche Mikrofone du benutzt. Ich mag ihren Klang wirklich. Er erinnert mich immer an den Gitarrensound von Neil Young oder den Rolling Stones. Die Martin hat genau das richtige Maß an Klangfülle.

Dafür sind die Martin-Gitarren ja auch sehr bekannt. Die Instrumente dieses traditionsreichen Herstellers zählen in der Welt der Akustikgitarren nicht umsonst mit zu den Besten.

Ganz richtig. Aber dieses Klangspektrum ist es auch, was eine Gitarre von beispielsweise einem Keyboard unterscheidet. Keyboards haben das gleiche Problem wie programmierte Drums. Wenn du eine Snare programmierst und abspielst, dann hast du jedes Mal den selben Sound. Wenn du eine Snare aber anschlägst, dann hast du immer einen etwas anderen Sound. Ich denke, es gibt einen großen Unterschied zwischen physischer und virtueller Musik. Das fängt bereits mit dem Singen an. Der Vorgang, eine körperliche Aktivität auszuführen erzeugt, grade beim Aufnehmen, eine größere Resonanz und eine ganz eigene Tiefe. Gitarre zu spielen ist ein physischer Akt. Das trifft vor allem auf akustische Gitarren mit ihrer enormen, sehr dynamischen Bandbreite zu. Deshalb mag ich sie auch so. Sie haben etwas Magisches an sich.

In wie weit ist Musik allgemein etwas Magisches für dich und wie würdest du die der Musik immanenten Kräfte beschreiben?

Musik ist für mich generell etwas Magisches, denn sie transformiert Dinge zu etwas Anderem. Kunst muss spirituelle Dinge übermitteln und zwar genau jene, die besonders stark und dringlich sind. Weißt du was ich meine? Für mich ist Musik die unglaublichste Form der Kommunikation. Das betrifft vor allem Songs, denn Songs funktionieren auf verschiedenen Ebenen. Sie haben aufgrund der Wörter in den Texten ein literarisches Element. Diese Wörter wiederum generieren Bilder in den Köpfen der Zuhörer. Daneben haben sie aber natürlich auch den Sound. Diese Art und Weise, wie das alles zusammenspielt, das ist das Magische daran. Ich meine hey, warum klingt ein Moll-Akkord trauriger als einer in Dur? Für mich ist das Magie.

Kannst du mir etwas über das Artwork der neuen Platte erzählen?

Da müsstest du Joolz [Denby, Lebensgefährtin von Sullivan und Designerin aller NMA-Artworks; Anm. d. Red.] fragen. Aber ihr Ansatz gegenüber der Kunst entspricht unserer Herangehensweise an die Musik: Alles muss vollständig organisch sein. Es geht immer um die Idee an sich und nicht so sehr um die winzigen Details, da sie wirklich schnell arbeitet. In ihrer Art zu arbeiten schimmern immer ihre alten Punkrock-Prinzipien durch. Es geht ihr darum, Seelenhaftes zu vermitteln. Das gilt auch für ihre Romane und Gedichte. Sie mag diese starke und zeitlose, ikonische Symbolik. Es gefällt mir, dass sie bei ihren Bildern immer neue Ideen hat, die jedes Mal ein kleines bisschen unvollkommen oder unvollendet sind. Nichts ist plastisch korrekt. Das interessiert sie gar nicht. Ihr geht es vordergründig darum, den Leuten eine Impression und ein Gefühl zu vermitteln. Deswegen ist sie auch die perfekte Künstlerin für unsere Artworks.

Als ich das neue Cover zum ersten Mal sah, musste ich instant an Nordlichter denken ...

... als wir am Studio ankamen fragte ich gleich am Anfang, ob es dort in der Gegend Nordlichter gibt. Mir wurde zwar gesagt, dass man dieses Phänomen dort in Giske nicht sonderlich häufig zu sehen bekommt. Aber wir haben tatsächlich welche gesehen. Wir haben sie gesehen! Von daher passt auch das Cover hervorragend zum Aufnahmeort und zur Musik.

Das muss unglaublich gewesen sein.

Das war es, das war es in der Tat (lacht). Es war wirklich ein besonderer Moment.

"Wir haben unsere Zivilisation so organisiert, dass gewollte Blindheit gegenüber uns selbst und dem Planeten den Ton angibt."

Du hast dich in der Vergangenheit öfters als sehr spirituelle Person beschrieben ...

...klar. Ich hoffe, dass sich so viele Menschen wie möglich als spirituelle Personen wahrnehmen, denn jeder ist eine solche. Für mich ist das augenscheinlich. Genau das habe ich versucht in den ersten Zeilen von "Setting Sun" auszudrücken. Ich war an einem Spätsommer irgendwo am Strand und die Sonne ging gerade unter. Als ich mich umdrehte, sah ich hundert Menschen oder so, die alle in Richtung Sonne schauten, um sie einfach nur ehrfürchtig zu beobachten. Für mich ist das ein Zeichen, dass wir alle verstehen, was wir wirklich sind. Wir sind alle in Ehrfurcht vor Gott oder wie du das auch immer nennen magst. Wir verstehen alle, dass wir ein Teil der Natur sind. Das betrifft besonders die Deutschen ...

... ja?

(Lacht) Ich habe noch nie einen Deutschen getroffen, der nicht komplett romantisiert über die Idee der Natur redete. Aber eigentlich sind alle Menschen so. Wir reagieren alle auf die Natur, da wir ja ein Teil von ihr sind. Wir können sie nicht kontrollieren und wir sind nicht separiert von ihr. Wir sind die Natur. Wir sind alle spirituelle Wesen, manche vergessen das nur leider.

Definitiv. Das kannst du ja heute überall beobachten.

So ist es. Wir schrieben für das Album über Dinge der Welt, in die wir irgendwie involviert sind. Trotzdem hatten wir ein großes Verlangen, einen Schritt zurück zu gehen und auf das große Ganze zu schauen. Vor allem im ersten und im letzten Track "Passing Through" und "From Here". Dieses Gefühl, einfach mal einen Schritt zurück zu gehen und innezuhalten, um das Ganze zu sehen, zieht sich durch das gesamte Album. Es geht darum, der Hektik des Alltags zu entfliehen und sich mal nicht einfach nur gegenseitig anzuschreien. Deswegen ist das Ende der Platte als Appell zu verstehen, einen Blick auf uns selbst betont zu werfen. Wir Menschen müssen eben einfach aufhören uns selbst zu ernst zu nehmen. Ich meine hey, was glauben wir denn bitte verdammt nochmal wer wir sind?

Ist "End Of Days" deswegen als erste Single erschienen?

Ich denke "End Of Days" war einfach deswegen die erste Single, weil die Leute, die für den Albumverkauf verantwortlich sind, zu Beginn etwas wollten, das nicht sieben Minuten Spieldauer hat. Weißt du was ich meine (lacht)? Sie wollten als erste Single einen kürzeren und griffigeren Song. Aber ja, unabhängig davon denke ich, dass wir damit eine Botschaft transportieren mussten und auch wollten. Alle Tracks auf der Platte sind recht persönlich geraten. "End Of Days" bot sich uns da als gute Möglichkeit, vorab etwas geradlinig in vier Minuten darüber zu sagen, was eigentlich gerade so auf der Welt um uns herum abgeht – auch wenn das momentan etwas trostlos erscheinen mag.

Ich meine, schau dir doch nur mal die Brexit-Wirren an. Also nochmal: Lasst uns alle einen Schritt zurück gehen und einen Blick auf das große Ganze werfen. So gesehen ist der Song ein guter Start, um das Album vorzustellen. Er beinhaltet alle Elemente des Albums, auch wenn er vielleicht nicht der beste Track der Platte ist. Meine Favoriten sind die längeren Songs. Aber als erste Single funktioniert "End Of Days" super.

Was wolltet ihr thematisch mit "End Of Days" insgesamt ausdrücken?

Einfach nur das, was um uns herum gerade so zu passieren scheint. Es gibt zu viele Leute, die negative Stimmung machen wollen und gegeneinander hetzen, um einen Keil zwischen Menschen zu treiben. Gleichzeitig wird wieder verstärkt Protektionismus betrieben – wie beim fucking Brexit oder mit der verdammten Mauer entlang der mexikanischen Grenze. Wir entzweien uns selbst. Am alarmierendsten aber in der letzten Zeit empfand ich eine Statistik, die besagt, dass während meiner Lebenszeit ungefähr 40 % des nichtmenschlichen Lebens auf der Erde verschwunden ist. Das ist entsetzlich, absolut entsetzlich! Jeder weiß darum, doch haben wir unsere Zivilisation so organisiert, dass gewollte Blindheit gegenüber uns selbst und dem Planeten den Ton angibt. Aber wir sind alle Teil davon. Schau dir beispielsweise die Mengen an Plastikmüll überall an. Diese Zivilisation braucht eine Katastrophe, um sich neu und im Einklang mit dem Planeten auszurichten. Ich bin da momentan nicht sehr optimistisch. Es ist, wie ich in "End Of Days" singe: Das Ende der Tage werden viele Tage sein. Die Katastrophe kommt nicht morgen und auch nicht übermorgen, aber sie wird kommen. Also lasst uns alle einen Schritt zurück gehen.

Wofür steht der Name New Model Army heute aus umwelttechnischer und politischer Perspektive?

Das kann ich dir gar nicht genau sagen. Wir versuchen durch unser Tun nur etwas zu erschaffen, das ein Gefühl, eine Empfindung und eine Leidenschaft fürs Leben vermittelt. Viele Leute denken fälschlicherweise, dass wir New Model Army gründeten, um eine politische Idee zu pushen. Wir sind keine politische Band! Wir kamen einzig und alleine der Musik wegen zusammen und es interessiert mich, über das zu schreiben, was in der Welt gerade so passiert. Die Musik ist aber immer das Herzstück.

Dennoch, wenn du an euren alten Klassiker "51st State" denkst, bist du da nicht der Meinung, dass gerade diesem Song heute wieder eine neue Aktualität innewohnt?

Ja, das stimmt (lacht). Wir hatten immer die Attitüde, einen Song genau dann nicht mehr zu spielen, wenn er bekannter als die Band an sich werden sollte. Also haben wir "51st State" echt lange nicht mehr im Repertoire gehabt. Über die letzten 15 oder 20 Jahre schien der Song, im Vergleich zum Zeitpunkt als er geschrieben wurde [Original 1979 von The Shakes, NMA-Interpretation von 1986; Anm. d. Red.], von seiner politischen Relevanz her auch abzunehmen. Wir spielten ihn dann aber in diesem Sommer auf dem Camden Rocks Festival in London. Wenige Tage später kam Donald Trump treffenderweise zum Staatsbesuch nach England. Die Brexiteers würden uns ganz gerne und ziemlich offen zum 51 State machen und das würde im Falle eines Brexits auch ganz sicher passieren. Der Song hat also absolut wieder eine neue Relevanz heutzutage.

"Wir wollen Platten machen, die der Hörer aufsaugt, weil das Zuhören ein Vergnügen ist."

Was genau bedeutet dir das Konzept der Langspielplatte in heutigen Zeiten kurzlebiger Streaming-Hits und Youtube-Clips? Vor dem Release der Platte habt ihr das LP-Konzept ja beharrlich verteidigt.

Ja, weil ich nicht glaube, dass die Mehrheit tatsächlich diese kurzen Hits will. Wenn du ein Album machst, dann kreierst du damit eine ganz eigene Welt. Und wenn die Leute in diese Welt eindringen möchten, dann hoffe ich auch, dass sie dort so lange wie möglich bleiben wollen und halt nicht nur drei Minuten lang. Ich finde, dass das vergleichbar ist mit dem, was die Leute gerne schauen. Klar schauen einige auch bevorzugt Youtube-Clips, aber sehr viele mögen es eben auch, lange Serien mit einer dichten Atmosphäre zu schauen. Lesen ist da vergleichbar, denn die Leute nehmen sich die Zeit ein Buch zu lesen gerade weil (betont) sie in andere Welten abtauchen möchten. Wenn du also Alben machst, die in diesem Sinne richtige Alben sind, dann werden die Leute das auch wirklich mögen.

Ja, davon bin ich absolut überzeugt ...

... eben. Das ist auch der Grund, weswegen wir seit unserem 2013er Album "Between Dog And Wolf" mit einem sehr viel ernsteren Ansatz an unsere Platten herangehen. Die Musik darauf soll in jedem Fall sonisch ansprechend abgemischt sein. Früher sammelten wir einfach Songs, nahmen sie irgendwie auf und brachten sie danach raus. Heute jedoch schauen wir nach geeigneten Produzenten und Mixern. Das Recording muss an Orten stattfinden, an denen wir uns wohl fühlen. Zudem legen wir beim Aufnehmen viel Wert darauf, Tapes zu verwenden. Wir wollen Platten machen, die der Hörer aufsaugt, weil das Zuhören ein Vergnügen ist. Diese Einstellung geht zurück auf meine absolute Lieblingsmusik, die Tamla Motown-Aufnahmen von 1965 – 1970. Nur die besten Sänger, die besten Produzenten und die besten Songwriter waren da mit dabei. Jeder machte den Job, den er am besten konnte und legte dabei Wert auf Teamwork. Jeder war also spezialisiert und sollte in seinem Bereich auch das Beste geben. In New Model Army pflegen wir die gleiche Geisteshaltung. Du kannst zum Beispiel bei den Gitarren auf unseren letzten Platten nie sagen, wer sie eingespielt hat. Außer Michael [Dean, Schlagzeuger; Anm. d. Red.] spielen bei uns alle Gitarre. Das heißt derjenige, der einen Teil am besten spielen kann, der nimmt ihn letztlich auch auf und damit fahren wir sehr gut.

Wo du gerade von speziellen Rollen sprichst: Was war das Besondere an der Produzentenarbeit von Lee Smith und Jamie Lockhart für "From Here"?

Sie sind noch recht jung und bringen somit eine enorme Menge Energie mit. Zudem sind sie selbst auch Musiker. Sie verstehen das Medium Musik bestens, da sie mit vielen verschiedenen Künstlern aus unterschiedlichen Genres arbeiten. Genau deswegen sind die beiden ja brillante Produzenten. Was sie vielleicht am meisten auszeichnet, ist ihre Vorliebe für Abenteuerliches. Wie ich vorhin schon in Bezug auf "From Here" sagte, ist das Machen eines Albums für sie immer ein Abenteuer. Du spürst diese Aufregung bei ihnen immer schon von Anfang an. Das macht es spannend, mit ihnen zu arbeiten.

Ich gebe dir ein Beispiel. Während die anderen alle für die Recording-Sessions nach Norwegen flogen, sind Lee und ich drei Tage mit dem Auto nach Giske gefahren. Wir hatten also jede Menge Zeit, um uns zu unterhalten. Dabei legten wir eine essentielle Regel für die Aufnahmen fest: Niemand darf zu irgendwas nein sagen, bevor es nicht getestet wurde. Wir zwangen uns, offen für alle Ideen offen zu sein und Dinge auszuprobieren. Für uns war das eine sehr gute Arbeitsweise, um das Album aufzunehmen. Ich hatte so oft das Gefühl, ich müsste Vorschläge ablehnen – durfte ich ja aber nicht. Beim Ausprobieren war ich echt oft überrascht und dachte mir: Yeah, das klingt ja doch super (lacht). Diese Haltung zieht sich durch das ganze Album.

Das heißt, das Element des Zufalls ist auf "From Here" stark vertreten?

Ich würde eher sagen, dass wir uns dadurch erlaubten, die jeweiligen Ideen freier sein zu lassen.

Das erscheint mir in der Tat sehr spannend. Hattet ihr sonst spezielle Strategien fürs Songwriting?

Nein, nicht wirklich. Wir arbeiten sonst eigentlich seit 20 Jahren auf die gleiche Art. Wir kommen am besten damit zurecht, von jedem von uns musikalische Ideen zu sammeln. Basslinien, Akkordfolgen auf der Gitarre, kleine Melodien, ein paar Jam-Sessions und ganz besonders Drum Beats. Alle diese Fragmente werfen wir in eine Box, die wir "Musikalische Ideen" genannt haben. Ich selbst habe immer ein Notizbücher dabei, um jederzeit ein Gefühl, eine Stimmung oder auch eine Geschichte notieren zu können. Das kommt dann in meine Box, die ich "Kram-über-den-ich-schreiben-will" genannt habe. Wenn beide Boxen voll sind, tatsächlich sind sie es heutzutage fast immer, dann ziehst du Ideen aus ihnen und schaust ob es passt. So gehen dir niemals die Ideen aus, wenn du mal nicht weiter kommst.

Für dieses Album habe ich anfangs täglich bis zu 18 Stunden in unserem kleinen Studio abgehangen, um an Ideen herumzubasteln. Ich habe da viel mit Michael zusammengearbeitet. Da ich selbst kein Schlagzeug spielen kann, arbeite ich sehr gerne mit Drummern zusammen. Durch die Vielfalt an stark unterschiedlich klingenden Instrumenten an einem Schlagzeug, achten sie ganz anders auf ein klanglich ausdifferenziertes und ausbalanciertes Soundbild. Ich kann mir Songs sehr gut vorstellen, aber es fällt mir manchmal schwer, die Vorstellung dann in der Realität umzusetzen. Michael hingegen kann das super. Er ist oft das Gegenteil von mir und wir ergänzen uns da bestens. Ich brauche jemanden, der mir sagt, welche meiner Ideen gut und welche scheiße sind. "Never Arriving" ist da ein gutes Beispiel. Das Hauptriff (summt es vor) haben Michael, Ceri [Monger, Bassist; Anm. d. Red.] und ich zusammen erjammt. Ich habe vier Songs mit dem Riff geschrieben, aber keiner davon war gut. Michael schlug dann vor, es etwas anders (summt wieder) auf einer akustischen Gitarre zu spielen. Plötzlich klang es gut. Ich ging dann heim und schrieb den Song über Nacht fertig.

Ein etwas außergewöhnlicher Song der neuen Platte ist "Maps". Kannst du mir sagen, wie ihr diesen Song geschrieben habt?

Der Song hat eine interessante Geschichte. Ich dachte über das Riff nach (summt es vor), das einem eigentlich wie die Basslinie vorkommt. Tatsächlich war das ein reiner Cello-Part. Wir haben diesen Part erst später bei den Aufnahmen mit dem Bass gedoppelt. Irgendwie war es aber bis dahin einfach nur wie irgendein Stück Musik. Michael hatte dann die Idee, es so zu belassen, dazu aber noch dramatisch klingende Schlagzeug-Ausbrüche einzufügen. Ich dachte mir dann, man könnte doch einen Song draus machen. Keinen Song im klassischen Sinne, aber trotzdem einen Song in Shanty-artigem Stil oder so. Wir probierten dann verschiedene Konzepte aus und fanden erst zu einem Ende, als Lee und Jamie dazu kamen. Ihre Idee war es, sowohl die Ausbrüche der Drums, als auch meine Songelemente zu kombinieren. Danach funktionierte "Maps" ganz gut, aber da wäre sicherlich mehr gegangen. Ich denke, wir hätten das wesentlich weiter treiben können, wenn wir einfach nur mehr Zeit im Studio gehabt hätten. Aber so ist das im Nachhinein ja oft.

Wie geht ihr mit dieser Erkenntnis live um? Arbeitet ihr die Songs noch etwas für die Tour aus oder plant ihr Jams ein?

Ja, sehr wahrscheinlich. Bisher hatten wir noch nicht wirklich die Möglichkeit, diese Tracks live zu spielen. Wir werden im restlichen Sommer während der Tour schauen, wie wir das dann tun. Einige Songs werden live so gespielt werden, wie sie auf dem Album sind. Aber es gibt auf jeden Fall Songs, die wir auf der Bühne in andere Richtungen führen können. Die Enden von "Setting Sun" oder "Passing Through" und auch "Maps" bieten sich hierfür an. Darüber nachzudenken, wie man solche Songs auf Konzerten spielt, ist letztlich nur ein weiterer kreativer Prozess und wir mögen das.

Ihr werdet im Oktober in Deutschland live zu sehen sein. Zusätzlich wird es auch wieder eines eurer mittlerweile schon fast traditionellen Weihnachtskonzerte in Köln geben. Was bedeutet es euch, in Deutschland zu spielen?

Wir mögen es, dort zu spielen. Wir haben bei euch immer eine gute Zeit. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, fallen mir dafür drei wichtige Gründe ein. Erstens liebt ihr Deutschen Livemusik und verfügt über ein phantastisches Netzwerk an Clubs. Sogar kleine Städte haben fast immer einen kleinen Club. Wenn du dir in Deutschland den Ruf als gute Liveband erspielt hast, dann hast du es dort auf eine Art irgendwie geschafft. Zweitens habt ihr nicht so eine zentralisierte Medienlandschaft wie wir, in der nur eine ganz kleine Minderheit darüber entscheidet, welcher Sound gerade cool ist. Bei euch wird da weniger diktiert, da es mehr Vielfalt gibt. Ich empfinde das als sehr positiv. Ich denke, man gibt den Leuten dadurch mehr die Möglichkeit zu hören, was sie wirklich mögen. Es scheint mir da weniger darum zu gehen, ob etwas cool sein soll, sondern darum, ob es gut ist. Uns kommt das natürlich entgegen, da wir immer schon eine kickende Liveband waren und ohnehin eher wenig Präsenz in den Medien haben. Drittens lebt ihr diesen fast schon märchenhaften Gegensatz zwischen Perfektion, Präzision der Sprache und tiefer, romantischer Liebe zur Natur. Dieser Gegensatz erinnert mich irgendwie an unser Verständnis dessen, was uns als Band ausmacht. Das ist natürlich auch irgendwie eine Verbindung.

Letzte Frage. Nächstes Jahr feiern wir 40 Jahre New Model Army. Gibt es bereits Planungen, dieses Jubiläum gebührend zu begehen?

(Lacht) Der Hauptgrund, dieses Jahr eine Platte zu machen war, dass niemand auf die Idee kommt, über die 40 Jahre zu sprechen. Lass uns das nächstes Jahr tun. Ich bin mir sicher, dass es viel darüber zu reden gibt, aber lass uns das nächstes Jahr tun (lacht).

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