laut.de-Kritik
Warum Joy Division einmal mit Tiefkühl-Hähnchen entlohnt wurden.
Review von Michael SchuhEigentlich eignen sich Boxsets gar nicht zum auspacken und anhören. Sie passen in kein CD-Regal und ohne das dicke Booklet ist man dem wirren Strudel an Studioversionen, Outtakes und Livetracks ohnehin hilflos ausgeliefert. Nach ein-, zweimaligem Anhören wandert so ein Ding deshalb meistens an irgendeine gut sichtbare Stelle im Zimmer. Zum Protzen. Womit wir bei einem elementaren Grund angelangt sind, sich New Orders neue 4-CD-Box "Retro" zuzulegen. Dem ästhetischen Pop-Verständnis ihrer britischen Kollegen der Pet Shop Boys nicht unähnlich, erstrahlt das querformatige Set in kühlem, von Modefotograf Helmut Lang inspiriertem Design: Ein Adler nähert sich ungestüm und mit spitzen Krallen einer Diskokugel. Eine aussagekräftigere Metapher für die musikalische Leistung der frühen New Order hätte man kaum finden können.
Zur Sache: 56 Tracks aus 22 Jahren Karriere wurden versammelt und ausgewählt von vier engen Freunden der Band, darunter Primal Scream-Sänger Bobby Gillespie. Ein an Anekdoten und Bildern reiches Booklet krönt den Style-Overkill. Die erste Hälfte des Sets, die CDs "Pop" und "Fan", bieten allerdings eher Bekanntes als "Fan"-Stuff. "Pop" ist eine Art Best Of-Sammlung von "Ceremony" über "True Faith" bis hin zu "Crystal". Auch "Brutal" vom "The Beach"-Soundtrack ist mit dabei. Die ungeschliffenen Original-12"-Versionen von "Temptation" und "Confusion", die sich von den "Substance"-Versionen unterscheiden, bilden hier die Highlights.
Die "Fan"-CD lüftet die unbekanntere, dunkle Seite New Orders und enthält einige Tracks der ersten drei Alben. Das minimal-herbe Instrumental "Elegia", das in einer 24-Stunden-Session entstand, und die '85er Album-Perle "Sunrise" stehen neben Frühwerken wie der vertonten Hilflosigkeit von "In A Lonely Place" oder dem von Bassist Hook gesungenen "Dreams Never End". Ein Song aus der Zeit kurz nach dem Ende Joy Divisions, als jeder mal für einen Song ans Mikro durfte. Eigentlich habe Drummer Morris damals die beste Stimme von allen gehabt, wie Sänger Sumner kokett anmerkt.
Die heiß erwartete Remix-CD "Club" hätte allerdings um einiges prickelnder ausfallen können. Die Maxis von "Bizarre Love Triangle", "Shellshock" und "Everything's Gone Green" sind allesamt bereits auf "Substance" vertreten. "Regret" auf halber Geschwindigkeit ist auch alles andere als aufregend. Richtig ärgerlich wird es aber, wenn "Blue Monday", der Song, mit dem New Order die Diskokugeln weltweit erst richtig zum Rotieren brachten, mittels einer Jam & Spoon-Bearbeitung regelrecht verschandelt wird.
Hier gebietet es sich, sofort zur "Pop"-Scheibe zurück zu switchen und der Original-Maxi zu huldigen ("Es war ein Technologie-Experiment", Sumner). Zeitlos schön dagegen die Arthur Baker-Version der verkannten Hymne "1963". Steve Hurleys Acid House-getränkter "Fine Time"-Mix böllert mit ähnlich coolem Retro-Bass wie es Good Old Mixmaster Shep Pettibone auf erwähntem "Bizarre Love Triangle" vormachte.
Dennoch ist die "Live"-Scheibe für den Fan wohl das wahre Box-Juwel. "Sie waren experimentell, sehr elektronisch und im selben Moment kraftvoll und emotional wie die Doors und Velvet Underground", fasst Augenzeuge Bobby Gillespie die frühen New Order-Auftritte im Booklet zusammen. "Ceremony" macht den Anfang und rückkoppelt lässig vor sich hin, was wiederum in Kontrast zu Morris' Worten steht: "Ich spiele 'Ceremony' gerne. Man kann während dessen einschlafen oder ans Einkaufen denken."
Die '83er Live-Version "Everything's Gone Green" zeichnet die ersten, holprigen Gehversuche der Band mit Live-Sequencing nach. "World" und "Regret" sind starke Versionen der letzten Auftritte New Orders von 1993, die die fortgeschrittene Zerrüttung innerhalb der Band zu keiner Sekunde erahnen lassen. "Turn My Way" stammt vom Liverpooler Auftritt mit Gastsänger Billy Corgan und die zündende Dance-Version von "Temptation" beendet die Gala-Vorstellung mehr als würdig.
Wer außerdem noch wissen möchte, wann New Order damit anfingen, Zugaben zu spielen, oder warum Joy Division einmal mit Tiefkühl-Hähnchen für einen Gig entlohnt wurden, der kommt an "Retro" nicht vorbei. Und eines sei abschließend auch noch verraten: man wird die Box öfters als einmal aus dem Regal hervorziehen.
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