Der britische Kulturjournalist Simon Reynolds geht zurück in die elektronische Zukunftseuphorie seiner Jugend.

Detroit/Düssseldorf/Atlanta (rnk) - Ein dreißig Jahre alter Song stürmt die Charts: Ski Aggu samplet Friesenjung von Otto Waalkes, der seinerseits damals einfach "Englishman In New York" von Sting umtexte. Die Netflix-Serie "Stranger Things" nutzt diese bequeme Wiederholungsspirale schamlos aus und präsentiert eine knallbunte Achtziger-Jahre-Serie, die geschickt auf idealisierte Bonbon-Nostalgie und der Sehnsucht nach eine einfacheren Zeit setzt.

Der britische Musikjournalist Simon Reynolds schrieb bereits 2008 über dieses Phänomen und nannte es "Retromania". Nun verfasst er mit "Futuromania" praktisch den Gegenentwurf zu seiner damaligen, mittlerweile wahr gewordenen Dystopie. Ein bisschen komisch anfangs, dass er auch dafür wieder in die Vergangenheit reist, und doch geht es um den Geist des Aufbruchs, den zum Beispiel Krautrock auslöste.

"Future Sound" nannte der Christoph Dallach seine Retrospektive auf den neuen Sound. Reynolds schlägt musikhistorisch den Bogen von Giorgio Moroders Genistreich "I Feel Love", dem vielleicht ersten elektronischen Dance Track, bis hin zum Trap-Sound aus Atlanta. Wer bereits Werke von Reynolds besitzt, weiß um die akribische Arbeit und die manchmal steilen Thesen. Sein Gender-Buch "Sex Revolts" sei eher eine Streitschrift gewesen, so entschuldigte er später, mit heftig Wut im Bauch auf den auch in den 90er immer noch grassierenden Sexismus im Rock-Genre. Durch die jüngsten Fälle gewinnt es zuletzt wieder an Aktualität.

Zurück in die Zukunft

"Futuromania" teilt er in drei Kapitel auf. "Auf in die Zukunft", "Theorie" und "Verlorene Zukunft". Teil 1 verläuft natürlich sinngemäß euphorisch. Simon Reynolds weiß natürlich, wie fraglich das ist, wenn Journalisten die Zukunft irgendeiner Musikrichtung ausrufen. Solange es sich nicht um eine noch nicht bekannte Form der Zeitreise handelt, kann man diese nicht voraus ahnen und bleibt natürlich in der jeweiligen Gegenwart, wenn diese Zukunft genau gerade stattfindet. Und doch kann man gut erahnen, wie utopisch Menschen Anfang der Achtziger der elektronische Sound von Kraftwerk vorkam. Erst im Rückblick lässt sich eben der Einfluss auf die nachfolgenden Generationen beschreiben. Interessant natürlich, dass auch Kraftwerk in ihrer Ästhetik auf die Zwanziger Jahre zurückgriffen, auf die Epoche des Futurismus.

Dance vs. Rock

Die Artikel und Texte in diesem Buch sind ebenfalls nicht neu, sondern eine Werkschau aus früheren Veröffentlichungen. So liest sich der Text über den Produzenten Mantronix genau so euphorisch, wie man es von einem damals 20-Jährigen erwartet, der gerade in die neue Zauberwelt der Musik einsteigt. Diese Begeisterung hat sich Reynolds zum Glück bewahrt, denn auch ältere Artikel über den eigentlich rückblickenden, ziemlich mediokren Dubstep-Musiker Rusko muss man für ihre kindliche Begeisterung lieben.

Im Theorie-Teil erklärt und verteidigt Reynolds auch elektronische Dance Music gegen allzu dämliche Vorurteile. Letztendlich wird auch die ehrliche Rockmusik mit Geräten verstärkt oder mit Pedalboard moduliert. Die ständige Suche nach Erneuerung fasziniert Reynolds am meisten, ebenso der Fokus auf dem Rhythmus. Kein angestrengtes Hören mit verschränkten Armen, sondern - auch in Ermangelung von Texten - eine Einbindung des Körpers in transzendente Erfahrung macht für ihn den Unterschied aus. Ein bisschen weit hergeholt, denn wer achtet bei Klassikern wie "Joker & The Thief" oder "Champagne Supernova" auf eine tiefere Bedeutung? Hauptsache es groovt.

Ziemlich richtig ist allerdings, dass bei elektronische Musik nicht das Ego im Vordergrund steht. Es geht in erster Linie um einen Vibe, die Personen dahinter egal - außer vielleicht bei Star-DJs wie David Guetta. Im besten Falle kommen wie bei Justice beide Welten zusammen.

Random Nostalgia

Und doch gibt es auch im elektronischen Genre auch eine konservative Nostalgie-Sehnsucht, "Random Access Memories" ist dafür aktuell ein gutes Beispiel. Reynolds geht diesem Phänomen in "Verlorene Zukünfte" auf der Spur und wagt noch mal einen genaueren Blick auf einstmals innovative Acts, die dann wie Boards Of Canada nach einem epochalen Album das Muster einfach kaum veränderten oder sich selbst zitierten. Burial hingegen begnügt sich mit sporadischen Eps und Mini-Alben, die allesamt mythisch aufgewertet werden, aber kaum noch den Zeitgeist beeinflussen. Auch Daft Punk, die Dance Musik mit harten Filter-Sounds neu belebten, gingen schon nach dem Debüt-Album "Homework" schnell zu einem rückwärtsgewandten Retro-Disco-Sound über. Der Schlusspunkt und logische Final war "Random Access Memories", das auf analoge Studiomusik und Giorgio Moroder-Hommage setzte.

So endet dieses Buch dann doch wieder kulturpessimistisch. Reynolds sieht in dem Begriff "neu" heute nicht mehr einen poetischen und revolutionären Idealismus seiner Jugend, sondern einfach tatsächlich ein stumpfes Optimieren der technischen Aspekte wie schnellere Prozessorleistungen. Das klingt dann doch sehr nach dem alten Mann, der früheren Zeiten hinterher trauert. "Futuromania" gibt auch keine Antworten, wie nun eine bessere Zukunft aussähe. Eine wie immer launige und nerdige Werkschau seiner leidenschaftlichen Prosa bleibt das Buch trotzdem. Ansonsten: Die Zukunft ist jetzt, alter Mann.

Simon Reynolds - "Futuromania - Elektronische Träume von der Zukunft"*

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Justice, Kraftwerk und Daft Punk

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