"I fucking hate Britpop": Die Lush-Sängerin erzählt, wie Musik sie vor dem großen Erfolg beschützte.

London (ker) - Vom wunderbaren Stephen Fry stammt der Satz: "The English language is like London: proudly barbaric yet deeply civilised too, common yet royal, vulgar yet processional, sacred yet profane. Ein wenig trifft dies auch auf die Sprache in den Erinnerungen von Miki Berenyi zu.

Verfolgt man den Twitter-Account der früheren Lush-Sängerin, überrascht die derbe Offenheit, gepaart mit empathischer Verletzlichkeit, mit der sie in "Fingers Crossed" (Nine Eight Books, Hardcover, englisch, 352 Seiten, 27 Euro) kompromisslos über ihre Kindheit, ihren Beginn als Musikerin und ihre oft frauenverachtenden Erlebnisse in der Musikszene schreibt. Aufgewachsen als Tochter eines ungarischen Vaters, der als Partyfreund und Womanizer nicht fähig war, sich um ein Kind zu kümmern und dies zeitweise zu seiner Mutter abschob. Mit schmerzhafter Ehrlichkeit schreibt sie über den Missbrauch durch diese Großmutter. Weitere Tiefschläge folgen.

"I didn't join Lush to sit in a dressing room knitting bootees"

Berenyi übernimmt die Verantwortung dafür, in ihrer Jugend keine Beziehungen eingehen zu können und zeigt Verständnis sowie Verärgerung über die Abwesenheit ihrer Mutter: Die Japanerin Yasuko Nagazumi spielte in vielen Sixties-Produktionen mit, darunter "The New Avengers" oder auch der James-Bond-Film "You Only Live Twice", in dem Miki indirekt auch mitspielt, denn ihre Mutter ist im dritten Monat schwanger.

Wer also hier eine verhuschte und verträumte Shoegaze-Sängerin erwartet hatte, wird verblüfft sein, welch radikale Rock'n'Roll-Attitüde die Musikerin in ihren damaligen Lyrics verpackt hat: "I wrote ‘Hypocrite’ because I can dish it out but I can’t take it, but I'm also wound up by the double standard of being slut-shamed when blokes – particularly blokes in bands – are high-fived for the exact same behaviour. Girls want to live the rock'n'roll dream, too, you know! I didn't join Lush to sit in a dressing room knitting bootees."

"Fingers Crossed" liest sich, als würde man neben ihr im Pub sitzen, während die Stimmung immer feuchtfröhlicher wird. Natürlich nehmen die 90er mit ihrer spannungsvollen Zeit zwischen Shoegaze und Britpop einen großen Raum in der Autobiografie ein und sind wohl auch verantwortlich für den schwarzhumorigen Untertitel "How Music Saved Me from Success". Denn die fantastische, neu klingende und von zwei Songwriterinnen und Gitarristinnen getragene Musik von Lush wurde trotz kurzem Achtungserfolg nie genügend gewürdigt. Die immer nach dem nächsten Hype gierende britische Musikpresse und auch die Öffentlichkeit wenden sich schnell ab, Acid House und Britpop sind die neuen Zugkräfte, ausgestattet mit viel Party- und Proll-Charme für tanzwütige Clubgänger.

Der eher intellektuelle Shoegaze-Ansatz hat hier keinen Platz mehr. "Wir waren der Gegenentwurf zu Rockstars wie Bono", sagte Ride-Sänger Mark Gardener einmal über das Selbstverständnis seiner Szene. Der im Shoegaze weit verbreitete, genderneutrale Gegenentwurf-Gesang wird oft übersehen - die Lad-Kultur um Oasis und Blur passt einfach besser zu Fußball und Pubbesuchen. Berenyi hasst den Begriff "Ladette", der damals für Frauen gelten soll, die auch gerne trinken, rauchen und grölen.

Promiskuität, Pubs und Songwriting-Credits

Höhnisch und hellsichtig nimmt sie dieses Konzept auseinander als eine Frau, die offen über ihre Promiskuität und Pubseele schreibt: "I'm now a 'ladette', a sub-category of lad, trying to fit in with and be fancied by the boys. My drinking pints and swearing and interest in football are no longer things I do purely for my own enjoyment, they've been fetishised as attributes for ideal girlfriend material. Lads! Why go out with a high-maintenance prom queen who makes you mind your language when you can have a bird who doesn't mind you getting pissed while watching the footy? AND you get to shag her after. I'm supposed to be flattered that my normal behaviour is now framed as a male fantasy, as if that's the peak of any woman's dreams and achievement."

Und um absolut klarzustellen, was sie von dem ganzen Hype hielt, lässt sie wissen: "So sorry for being a party pooper, I know a ton of you had a blast, but I fucking hate Britpop and I'm glad the whole sorry shit fest ended up imploding. I just wish it hadn't done so much damage while it lasted". Der Schaden an Shoegaze und dessen medialem Ende ist damit nicht nur gemeint, vor allem der Schaden für Frauen in Bands: In zahlreichen Shoegaze-Bands spielten und komponierten Frauen schließlich gleichberechtigt. Mit Berenyis Schulfreundin Emma Anderson ist das bei Lush nicht anders gewesen. Sie war es auch, die darauf besteht, dass die Credits als Songwriterinnen auch ihnen zustehen. Dennoch habe es auch bei Lush Konkurrenzdruck um die Singles gegeben. Berenyi votierte zum Beispiel für einen der schimmerndsten und schönsten Lush-Songs "For Love".

Mit viel Selbstkritik und Seitenhieben beschreibt sie ihr angespanntes Verhältnis zu Anderson, von der Zeit in den 90ern über die Trennung bis hin zur kurzzeitigen Reunion: "We didn't speak for five years and then we did and then we had the Lush reunion in 2016 and then we fell out again". Das Happy End besteht für Miki in ihrer neuen Band Piroshka sowie ihrer Familie. Die letzten beiden Worte der Autobiografie lauten dann – beabsichtigt oder nicht – for love...

Miki Berenyi "Fingers Crossed*

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