Ein exzellenter Erklärbär seziert "das pulsierende Jahrzehnt": Mode, Technik, Trends, Katastrophen, Kultur und Politik der Achtziger - und die Musik.

Konstanz (dani) - Die Siebziger hat er vor drei Jahren schon abgehakt, in "High Energy" (Rowohlt Berlin, 400 Seiten, gebunden, 28 Euro) nimmt sich Jens Balzer die nächste Dekade vor: "Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt". Ja, warum nicht?

Auf Siebzigerbabys, die in den Achtzigern Kind waren, wirkt die Lektüre selbstverständlich wie eine Fahrt mit dem Nostalgiezug. Ein Erinnerungs-Flashback folgt dem nächsten, wenn Balzer Mode und Musik, Trends und Technik, popkulturelle Phänomene und Politik seziert. Wer zu klein gewesen ist, um die zur Debatte stehenden Jahre bei vollem Bewusstsein mitzubekommen (oder alt genug, um aktiv dafür zu sorgen, das genau das nicht passierte), dem könnte sich angesichts dieses Buches tatsächlich der eine oder andere Zusammenhang erschließen.

Exzellenter Erklärbär

Vieles hat man seinerzeit ja mitbekommen, konnte aber nicht recht einordnen, woher etwas kam und welche Kreise es zog. Jens Balzer gibt für diese Fälle einen exzellenten Erklärbär. Treffsicher pickt er die Themen, die das Jahrzehnt prägten. Von banalen Details (Schulterpolster) über Literatur, Funk und Fernsehen ("Schwarzwaldklinik") über Seuchen (AIDS) und Katastrophen (Tschernobyl) bis hin zur großen Politik (vom Wettrüsten bis zur Wiedervereinigung) nimmt der Autor Kleines wie Großes unter die Lupe und erläutert schlüssig und verständlich Entstehungsgeschichte und Auswirkungen.

Musik liegt in der Luft

Nicht ohne Grund trägt das Buch eine Musikrichtung als Titel: Natürlich liegt immer und überall auch Musik in der Luft. Die illustriert und spiegelt schließlich die Zeit, in der sie entstand. Balzer beleuchtet Punk, Pop, später den aufkeinemden Hip Hop, Modeentscheidungen von Modern Talking oder Grace Jones, Porno-Videos der Ärzte und den Körperkult, den etwa Videos von Olivia Newton-John zelebrierten. Der Parental Advisory-Sticker? In den Achtzigern zu Ehren gekommen, genau wie Breakdance, Sampling, Depeche Mode oder Michael Jacksons ikonischer Moonwalk.

Dass Jens Balzer alle naselang aus anderen Publikationen zitiert: geschenkt. Es wäre ja wohl auch völlig schwachsinnig, jedes einzelne Rad neu zu erfinden zu wollen. Ein Verzeichnis der vielen erwähnten Quellen anzuhängen, hätte ich dennoch nicht nur anständig, sondern auch hilfreich gefunden. Durchaus denkbar ja, dass sich die eine oder der andere, von "High Energy" angefixt, über bestimmte Themen bei den wirklichen Expert*innen weiter informieren möchte. Balzer zieht sie zwar dutzendweise zurate und zitiert (durchaus auch mal längere) Passagen. Wo ich am Ende mit einer ausführlichen Leseliste gerechnet hätte, findet sich allerdings nur eine dürre Danksagung. Danke auch.

Keine Liebe

Aber gut, wir können ja alle selber googlen - das größte Problem an "High Energy" ist ein anderes: Jens Balzer zeigt wirklich kein Fünkchen Liebe oder auch nur gnädige Sympathie für den Gegenstand seines Buches. Besonders, wenn er über Menschengruppen schreibt, schwingt durchgehend Verachtung mit. Ich hoffe, dieser Mann mag überhaupt irgendjemanden: Für die Ökos, Punks und Popper, die er gleich im ersten Kapitel analysiert, scheint er jedenfalls ausnahmslos nichts übrig zu haben, auch nicht für die Grufties, die Yuppies, die Hacker oder die Aerobic-Fans, die später noch drankommen.

"Der Autor dieser Zeilen"

Wenn er schon niemanden leiden kann, dann doch hoffentlich irgendetwas? Wie gesagt: Ich hoffe es für ihn, "High Energy" verrät jedenfalls keine der Vorlieben seines Autors, weder musikalische noch sonstige. Selbst, wenn er von sich selbst erzählt. Das wiederum tut er gerne auch prätentiös in der dritten Person, als "Verfasser dieses Buches". Himmel, hilf!

Wenn man schon meint, in welcher Sorte Band "der Autor" gespielt und wie er damals ausgesehen hat oder dass er Art Spiegelman persönlich begegnet ist, sei derart von Belang, dass es unbedingt in dieses Buch gehört - was zum Teufel ist dann verkehrt an der Vokabel 'ich'? Und wenn der Umstand, dass er Spiegelmans Biografie übersetzt hat, "eine andere Geschichte" ist - warum erwähnt er das dann hier überhaupt?

Plötzlich plausibel

Die hin und wieder wichtigtuerische, sonst fast durchgehend miesepetrig-mäkelige Attitüde ändert jedoch nichts an der mühelosen Lesbarkeit von "High Energy". Balzer erklärt ja trotzdem gut. Am Beispiel der Serien-Erfolge "Schwarzwaldklinik" und "Ich heirate eine Familie" zeigt er sich wandelnde Familienbilder auf, an Kostümen und Selbstdarstellung von Musiker*innen die schon hier massiv beginnende Erosion stereotyper Geschlechterrollen. Er dröselt die Auswirkungen technischer Innovationen wie Walkman, Video oder Computern auf Kultur und Gesellschaft auf und stellt einzelne Ereignisse nachvollziehbar in größere Zusammenhänge.

So erscheint vieles, das man eben so hingenommen (oder worüber man einfach seit 30 Jahren nicht weiter nachgedacht) hat, plötzlich ungeahnt plausibel. Auch wenn Balzer kaum etwas von dem, über das er schreibt, zu mögen scheint, zeichnet er doch ein buntes Wimmelbild eines schrägen Jahrzehnts, in dem jede*r, die*der es mitgemacht hat, reichlich Gelegenheiten für Wiedersehensfeiern findet.

Trotzdem wundere ich mich ein bisschen: "Lustiger und klüger kann man nicht schreiben", frohlockt es werbewirksam vom Einband. Echt jetzt? Leider habe ich nicht herausgefunden, welche*r Kolleg*in von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sich von "High Energy" derart angetan zeigte. Man sollte diesem Menschen dringend ein wirklich lustiges, kluges Buch schicken. Dieses hier von Jens Balzer beeindruckt deutlich mehr mit solidem Chronistenhandwerk und geisteswissenschaftlich geschultem Blick als mit besonders cleveren (oder gänzlich neuen) Erkenntnissen, und schon gar nicht mit Witz oder Humor.

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