In seinem vierten Buch referiert der Bad Religion-Sänger und Professor für Evolutionsbiologie eloquent über seine Punk-Sozialisation.

Los Angeles (rnk) - Greg Graffin galt nie als schwieriger Charakter. Schon immer war der Bad Religion-Sänger und promovierte Evolutionsbiologe der nette Gentleman und mahnende Onkel des Punkrocks. Nach seinen eher wissenschaftlich gehaltenen Büchern über Naturalismus und - natürlich - Religion steht seit Anfang November 2022 seine Autobiografie "Punk Paradoxon" (Hannibal Verlag, 416 Seiten, Taschenbuch, 29 Euro, übersetzt von Paul Fleischmann) in den Läden: nicht unbedingt eine kompakte Lektüre. Statt mit der Evolution der Tiere befasst sich Graffin hier mit seinem eigenen Werdegang und dem des Punks.

Straight Outta Mittelschicht

Angriffsfläche bietet er selbst genug: Als Professorenkind aus der soliden Mittelschicht, obendrein ohne jede Lust auf Drogen, verstößt er gegen viele Punk-Dogmen. Bescheuert genug, eigentlich wollte Punk einst ja Grenzen aufheben statt neue zu erschaffen. Ein Professor Greg Graffin dürfte eigentlich gar nicht stattfinden, trotzdem gehört er zu den respektiertesten Sängern der Punkmusik. Auch ich, irgendwann dem Genre verfallen, fand ihn als Teenager im Vergleich zu meinen coolen Skatepunk-Bands irgendwie cringy, aber Bad Religion waren einfach viel zu bedeutend, um sie zu shamen.

Schon damals kapierten selbst wir, dass unsere coole Skater-Musik aus dem Ghettoblaster ohne diese Band und ihren Einfluss auf Punk nie stattgefunden hätte. Überhaupt stammte ja ein Großteil der ach so coolen Street Kids nicht aus dem härtesten Ghetto, sondern präsentierte stolz Boards, die Papa, von Beruf Sparkassen-Angestellter, bezahlt hatte. So mies, wie wir unsere Eltern aus unserer Möchtegern-Rebellion heraus fanden, waren sie dann eben auch wieder nicht.

Auch Gregs Dad machte offenbar nicht alles falsch, immerhin begeisterte er seine Kinder mit seiner Leidenschaft für Musik. Nonstop liefen im Hause Graffin Johnny Cash und viele Soul-Platten. Ein anderes Thema blieb dagegen stets kontrovers: Die Graffins sind Wissenschaftler und lehnten Religion ab, gerade weil die Mutter, die in einer streng religiösen Familie aufwuchs, schlechte Erfahrungen gemacht hatte. So oder so, das Familienidyll war nicht von Dauer: Gregs Eltern trennten sich.

Das Mysterium der Selbstwahrnehmung

Die Bandgeschichte von Bad Religion kennen Fans natürlich größtenteils aus "Do What You Want". "Punk Paradox" ergänzt diese Darstellung aber um die reine Greg-Perspektive auf die Dinge. Seine eigene Familiengeschichte nimmt größeren Raum ein und führt auch in die Welt vor Punk und dem Bandleben.

Dort bekommt die vermeintlich heile Mittelschichtswelt grobe Risse: Der alkoholkranke Stiefvater kann, vollkommen überfordert, seine Rolle nicht erfüllen. Graffins Mutter hingegen erleben wir immer häufiger als starke, selbstbestimmte Frau, die gegen die reaktionären Umstände und die Benachteiligung von Frauen im 70er-Jahre-Amerika ankämpft. Die Wut gegen ein solch rückwärtsgewandtes System wächst auch beim Sohn, der infolge der Scheidung seiner Eltern zwischen Wisconsin und dem wesentlich ungemütlicheren L.A. pendeln muss.

Punk in der Sackgasse

Irgendwo in diesem Gemisch aus Langeweile und Rebellion gründen sich Bad Religion, die im berühmt-berüchtigten Fast-Food-Imbiss Oki Dog auch andere Freunde wie die Circle Jerks antreffen. Die anfangs noch lustigen Begegnungen an ihrem Lieblingsort, einem Safe Space, entwickeln aber zunehmend nihilistische Züge, als die Szene brutaler wird und Drogen eine immer wichtigere Rolle spielen.

Wo sich einst Kids gemeinsamen aus Spaß zu Konzerten trafen, liegt nun eine wesentlich gefährlichere Stimmung in der Luft. Die Szene fällt auseinander, Kreativität weicht stumpfem Frustabbau. Mitte der Achtziger befindet sich Punk in L.A. in einer Sackgasse. Es gilt nur noch die Devise, alles immer noch stumpfer und härter zu gestalten. Greg sieht jedoch andere Waffen als Gegengift gegen die reaktionäre Politik Ronald Reagans: den menschlichen Verstand und die Macht des Wortes.

Anarchist Academy und Ausverkauf

Es schlugen und schlagen grundsätzlich zwei Herzen in Greg Graffins Brust: Er liebt Punk-Musik und Rock, aber er ist auch Akademiker. (Wobei der Kontrast auch fast schon wieder Punk ist.) Bad Religion haben nie kommerziellen Bullshit betrieben, dennoch geht Graffin auf die Zeit vor 1993 ein, vielleicht die letzte Phase, in der zwischen Indie und Mainstream zumindest nach außen hin noch eine klare Trennlinie verlief.

Nach dem Erfolg von Nirvana erkennt auch MTV das Potenzial dieser neuen, bis dahin verschmähten Untergrund-Kultur. Die alte Szene-Garde der 80er, etwa die Dead Kennedys oder Black Flag, sind dagegen abgemeldet. Punk ist nun auf dem Weg zu einer breiteren Hörerschaft: ein Umstand, den der Bandkollege Brett Gurewitz mit dem Label Epitaph und Bands wie The Offspring gut unterstützt.

Graffin soll in diesen Tagen ständig für Mainstream-Medien den Zustand der Szene erklären, was ihn nur verwirrt: "Wenn ich nicht gerade auf der Bühne stehe, bin ich mit Schreiben, Studieren und meinen Kindern beschäftigt. Ich habe keinen blassen Schimmer, was sich in den Clubs abspielt", antwortet er auf die ständigen Nachfragen.

Der nörgelnde Opa

Äußerst selbstbewusst geht Greg allerdings kritisch mit den MTV-Kids ins Gericht, die seiner Einschätzung nach nicht die wahre Kunst und die tiefere Bedeutung seiner Texte verstünden, sondern dem Hedonismus frönten. Immerhin fährt der sonst so ruhige Professor auch mal aus der Haut, allerdings hat er dann etwas vom dem Opa, der über diese jungen Menschen nörgelt. Auch einen jungen Punk, der ihn anmault, stellt er als unflätigen Dummkopf hin.

Solche Stellen lassen den eigentlich umgänglichen Bad Religion-Sänger etwas eingebildet dastehen. Dabei ist er schlicht ein Intellektueller, der die Dinge lieber überdenkt, statt den kürzesten, einfachen Weg zu gehen. Was natürlich weniger spannend als die Biografie von Guns'n Roses wirkt.

Abseits der Pfade

Fast könnte man in solchen Momenten den Punk schon als Griffins Hassliebe bezeichnen. Er sucht die Nähe zum Genre, scheint aber manchmal viel lieber seinen Studien und Forschungsreisen zugetan als der bewussten Vereinfachung. Punk versteht er weniger als Mode, eher als nonkonformes Verhalten, das eben auch gegen Szene-Dogmen angeht. So ganz angekommen wirkt er in beiden Welten mitunter nicht. Auch die akademische Sphäre mit ihrem elitären Habitus stößt ihn manchmal ab.

Zum Abschluss erfolgt immerhin eine Versöhnung mit den Couchpotatos, die lieber die Musik von Bad Religion in Games hören als noch einmal - wie im Jahr 1981 - eine Revolution zu starten. Die bezahlen immerhin auch die Rente, liefern Ideen und sorgen dafür, dass Bad Religion auch nachfolgenden Generationen ein Begriff bleibt: als ein wichtiger Teil der Punk-Evolution und im Gegensatz zu den Dinos noch immer nicht ausgestorben.

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