Humanismus ist nicht verhandelbar. Die Hamburger Band hat Grund zu feiern und sorgt für feuchte Augen in der Stadt mit den 13 Häfen.
Berlin (dp) - "In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung". Bernd Begemanns Zitat, das Kettcar oft als Intro für "Landungsbrücken Raus" wählen, trifft heute auch auf das Publikum in der fast ausverkauften Berliner Columbiahalle zu. In der Hauptstadt gibt es tatsächlich 13 Häfen, und so haben sich in freudiger Erwartung etliche Fans eingefunden, um Kettcar zu sehen.
Die Hamburger haben ihre neue Platte "Gute Laune, Ungerecht Verteilt" im Gepäck. Das Album ging auf Eins und verdrängte gar Beyoncé von der Spitze. Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Die Stimmung ist auf und vor der Bühne entsprechend gelöst, als Kettcar mit "Auch Für Mich 6. Stunde" loslegen. Thees Uhlmann hatte sich per Social Media ebenfalls für das Konzert angekündigt, blieb dann (zumindest auf der Bühne) aber absent.
Humanismus: nicht verhandelbar
Der erste von vielen Gänsehautmomenten an diesem Abend heißt wohl "Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)". Das Helfen durch Zäune sei ein zutiefst menschlicher Akt und Humanismus nicht verhandelbar, betont Marcus Wiebusch dazu. Blickt man in die Fanreihen sieht man das ein oder andere feuchte Paar Augen, und beim Refrain singt Berlin auch aus vollem Halse "Er schnitt Löcher in den Zaun" mit. Im Hintergrund läuft dazu ein Video mit einem fiktiven Fluchthelfer.
Auch das Thema Rassismus wird mit "München" von der neuen Platte empathisch nachdrücklich in den Fokus gerückt. Wie wichtig und aktuell die Themen sind, die Kettcar aufgreifen, zeigt sich auch am bewegenden "Der Tag Wird Kommen", der von einem schwulen Fußballer handelt, der nicht den Mut aufbringen kann, sich zu outen und den dieses Versteckspiel gleichermaßen frustriert und wütend macht. Auch hier: pure Solidarität im Publikum und hochgereckte Fäuste, nicht nur beim Refrain.
Mama ist die Beste
Aber Kettcar berühren die Herzen ihrer Fans nicht nur mit ernsten Themen, sondern singen auch von dem Blödsinn, den man macht, wenn man noch jung ist "(Benzin Und Kartoffelchips"). Oder davon, dass im Taxi weinen eben doch besser ist als im hvv-Bus. Und natürlich auch davon, dass wahre Liebe bedeutet, dem anderen auch mal die Haare beim Kotzen zu halten ("Rettung").
Neben freundlich gemeinten Frotzeleien der Hamburger gegen Berlin plaudert die Band auch ein bisschen aus dem Nähkästchen. Sänger Wiebusch wechselt sich hierbei mit Bassist Reimer Bustorff ab, der die Zeit zwischen den einzelnen Titeln mit seinen humoristischen Ansagen wunderbar auflockert. So erfährt die Columbiahalle von den wilden Punk-Zeiten von Bustorffs Mutter im SO36, und dass Mama ihn nicht für "diese ganze romantische Scheiße" großgezogen hat, ihr Rat: "Sei Sand im Getriebe".
Wiebusch lässt es sich dazu nicht nehmen, die Bandhistorie chronologisch nachzuzeichnen, um diese geschickt mit den Songansagen zu verbinden. Weitere Titel an diesem Abend die Ode an die Fernbeziehung "48 Stunden", "Balkon Gegenüber (immer noch ohne Refrain) "Ankunftshalle" oder "Money Left To Burn".
Das Publikum strahlt
Mit "Landungsbrücken Raus" beenden die Hamburger ihr reguläres Set. Für ganze vier Songs kommen sie noch mal nach vorne, darunter "Deiche" und überraschenderweise auch "Ich Danke Der Academy". Mehr kann sich ein Publikum nicht wünschen, fast zwei Stunden haben Kettcar gerockt. Das textsichere Publikum strahlt selig, die Band scheint glücklich und entspannt - ein rundum gelungener Konzertabend.
Beim Konzert 2019 an gleicher Stelle träumten Kettcar noch davon, in der Mercedes-Benz Arena zu spielen. Nun haben sie es in den Charts zumindest auf die Eins geschafft, und das ohne Hit. Im Gegenteil, die neuen Banger sind so gut, dass man "Graceland" oder "Palo Alto", die es nicht in die Setlist schaffteb, kaum vermisst. Und wer weiß, vielleicht war die Nummer eins nur die erste von vielen. Alles ist möglich. Auch die Uber Arena.
Von Désirée Pezzetta.
1 Kommentar
In "Benzin und Kartoffelchips" geht es mitnichten um "Blödsinn den man macht, wenn man jung ist", sondern um eine Prügelei, die in einer schweren Körperverletzung oder einer solchen mit Todesfolge vor Gericht endet, und wie sich dies auf eine Gruppe von Freunden auswirkt. Blödsinn eventuell, aber dann doch eher von der ernsten Sorte.