155.000 Fans im belgische Dessel: Rammstein, Deep Purple, Opeth, Evanescence, Emperor, Scorpions, Mastodon, In Flames, A Day To Remember u.a.
Dessel (kluk) - "Du bist doch auch so einer, der Wacken als Party-Tourismus abstempelt und dann beim Graspop erstmal 'ne Runde Riesenrad fährt." Harte Vorwürfe an den Autor dieser Zeilen, die hier aber wohl keinesfalls fehl am Platze sind. Denn das Graspop Metal Meeting ist Big Business. 155.000 Zottelbärte finden vor den hiesigen Bühnen Platz, ein überdimensionaler Menschenauflauf, wie frisch aus dem Heavy-Metal-Rezeptbuch.
Sicherheit geht vor
Nach dem üblicherweise langwierigen, aber durch und durch professionell aufgezogenen Einlassprozedere wird schnell klar: Gefahr droht hier im belgischen Dessel niemandem. Flughafen-Scanner an jedem Eingang, ein personalisierter Scanner-Chip an jedem Handgelenk. Wir sind alle nur Barcodes im großen Katalog. Orwell lässt grüßen.
Angesichts des tatsächlich großen Sicherheitsgefühls aber ein kluger Schachzug der Organisatoren. So bleiben die größte Gefahrenquelle auf dem Festivalgelände zunächst einmal die mit einer guten Portion Alestorm beschallten Autoscooter. Wer nicht gerne von alkoholisierten Geisterfahrern gecrasht wird, fährt zunächst also einfach Riesenrad. Da fliegen die Haare immer so schön.
Polnischer Präzisionskurs
Fast so schön wie bei Decapitated-Sänger Rafał Piotrowski, der seine Dreads mittlerweile bis an die Kniekehlen trägt. Die polnische Tech-Death-Fraktion rüttelt am Festivaldonnerstag erstmals wach und rührt mit einem ambitionierten Auftritt kräftig die Werbetrommel fürs anstehende Studioalbum "Anticult". Dank klinisch aktiver Pickups fährt der Vierer mit nur einer Gitarre einen Präzisionskurs, der in Sachen Tightness kaum noch zu überbieten ist.
Inzwischen sind auch die letzten Neuankömmlinge unterwegs Richtung "Boneyard"-Zeltplatz – zu Fuß selbstverständlich, beladen mit Zelten, Bierpaletten und reichlicher guter Laune. Mit Sackkarren zerren die Besucher teilweise mehr als ihr eigenes Körpergewicht den Weg entlang, es sind fast Szenen wie auf der Flucht ...
Blasphemie aus Israel
Mit Flucht kennen sich auch Melechesh aus: Die Black-Thrasher zog es schon vor Jahren von Israel gen Niederlande, auch in Belgien ist man der blasphemischen Kunst heute wohl gesonnen. Geht dem Vierer auf der Marquee-Bühne noch einiges an Druck flöten, profitieren Sólstafir von der vollen Wucht im Zelt. Die Zahl der Island-Fanboys im Zuschauerbereich beweist, dass Trygvasson und Co. ihren Geheimtipp-Status längst entwachsen sind – zum Glück gleicht die Graspop-Zeltbühne kapazitätsmäßig einer mittelgroßen deutschen Konzerthalle.
Draußen derweil unsere frischgebackene Ex-Twisted Sister Dee Snider, unter anderem mit einem NIN-"Head Like A Hole"-Cover und dem obligatorischen "We're Not Gonna Take It". Diesmal leider ohne Donald Trump als Go-Go-Tänzer. Ein zunächst skeptisch erwartetes, dann aber grandios ausartendes Heimspiel feiern daraufhin die belgischen Post-Metaller Amenra, die ihre gehässige Verderbnis im Zelt ergießen. Trotz Snider-Bässen im Hintergrund und unangebrachter Mitklatschtiraden, ein für diese Größenverhältnis erschreckend intimer Gig.
Der geneigte Post-irgendwas-Metaller pfeift in der Folge auf Epica und spurtet natürlich gleich rüber zu Alcest. Ihr wisst schon, Leute die auf Metalfestivals in kurzen Hosen und mit laut.de-Jutebeuteln rumlaufen. Ein verzerrtes Logo an der Wand, ein gewohnt stimmiger Sound aus den Boxen. Vive la France!
It's the final countdown
Trotz in Deutschland nahezu undenkbarer Zuschauerzahlen bewahrt sich das Graspop eine gewisse Intimität. Selbst vor den Hauptbühnen herrscht selten großes Gedränge, vielmehr reihen sich mitgebrachte Campingstühle nebeneinander ein. Wer den Kopf leicht nach rechts neigt, entdeckt die halbe Sólstafir-Besetzung, die eifrig Europe-Klassikern lauscht und geduldig auf den "Final Countdown" wartet.
Große Emotionen anschließend bei Emperor, die das 20. Jubiläum der "Anthems To The Welkin At Dusk" mit einigen Exklusivauftritten würdigen. Ihsahn wie gewohnt in absoluter Höchstform, obendrauf gibt's "Nightside"-Klassiker wie "I Am The Black Wizards". "Inno A Satana" beschließt den einzigartigen Black-Metal-Siegeszug. Der dann auch beinahe nahtlos in einen gewohnt megalomanischen Rammstein-Auftritt übergeht.
"Ja! Nein! Rammstein!" – Die Berliner Parolen könnten im Ausland besser nicht funktionieren. Ein bisschen Pyroshow gucken, ein bisschen "Amerika" und "Du hast" (wie zuvor schon bei Europe) mitgrölen. Alle lieben diese verrückten Deutschen. Und so vernimmt man auch am Ende des Tages noch ein begnügtes Mitpfeifen der "Engel"-Melodie aus jeder Pissoir-Runde des Graspop-Festivals. Und dann gehen auch die Wolken schlafen.
Mit Devin Townsend ins Wochenende
"I dropped my water! I picked up my water! Hooray!" – Devin Townsends gute Morgenlaune müsste man haben. Während sich das Publikum draußen auf den mit While She Sleeps, Of Mice & Men und A Day To Remember gut bestückten Metalcore-Samstag vorbereitet, reißt der hyperaktive Prog-Master eine gewohnt erstklassig episch-vertrackte Show runter, die sogar den Corpsepaint-Mädels aus der dritten Reihe ein unfreiwilliges Grinsen ins Gesicht zaubert. Das schraubt die weitere Erwartungshaltung dann erstmal derart gen Horizont, dass einen das nach dem gestrigen Sepultura-Gig bereits zum zweiten Mal erklingende "Roots Bloody Roots" der Cavalera-Brüder doch ein wenig kaltlässt.
Noch viel kälter wird es anschließend bei Mayhem: Nach dem gestrigen Emperor-Inferno gibt es heute mit "De Mysteriis Dom Sathanas" auch gleich den nächsten Black-Metal-Klassiker zu bestaunen. Hellhammer und Co. setzen dafür gänzlich auf Atmosphäre, selbst die Performance Attila Csihars bleibt vergleichsweise unblutig. Ein paar vom Kerzenschein angesengte Fingerkuppen sind dabei aber nicht auszuschließen. Ein äußerst einnehmender Gig, der Euronymous' wichtigstes Vermächtnis auch 24 Jahre nach seiner Ermordung hoch leben lässt.
Stimmungshoch zu A Day To Remember
Kulturschock anschließend bei den Pop-Punk-beeinflussten Coresounds von A Day To Remember. Hier gibts Konfettiregen und Breakdowns en masse, Moshpits und Mitsingparts zeugen von überschwänglicher Stimmung. Genau die falsche Antwort auf einen Mayhem-Gig eben. Schönes Schmankerl: Sänger Jeremy McKinnon promotet mit seinem Code Orange-Shirt auch eine der kleineren Bands der Jupiler Stage.
Ein bisschen Gossip: Amorphis-Sänger Tomi Joutsen trägt die Haare jetzt wieder normal – und könnte mit seiner wilden Mähne im Grunde als Vorsitzender der finnischen Hells Angels durchgehen. Entsprechend energiegeladen kommt der Gig daher, insbesondere die "Under The Red Cloud"-Stücke treiben den Musikern noch immer ein breites Grinsen ins Gesicht. Joutsens lustloses Standard-Gestammel ("We hope you enjoy your time. This is a great festival. We love to play here.") spricht allerdings eine andere Sprache.
Ministry stampfen das Zelt zu Boden
Bei Ministry gibts anschließend reichlich Distortion auf die Ohren. Al Jourgensen zeigt den Belgiern, wo die Wurzeln des Rammstein-Sounds liegen und lässt die Beteiligten auf den Bodenbrettern einen zerstörungswütigen Hulk-Tango tanzen. Vorsicht bei Alkohol + Industrial-Mucke, Kinder.
Ob die Welt ein neues Deep Purple-Album gebraucht hat? Ungewiss. Fakt ist: Zwischen Überhits wie "Strange Kind Of Woman" und "Space Truckin'" wirkt fast gar nichts wie B-saitiges Füllmaterial. Zwar stehen mit Steve Morse und Don Airey längst keine Originalmitglieder an Gitarre und Orgel, dafür altern Deep Purple aber offenbar doch noch mit Würde. Gerade Ian Gillan scheint wieder besser bei Stimme als noch vor drei Jahren, Glanzleistungen wie "Child In Time" sind natürlich trotzdem in weiter Ferne.
So viel Liebe
Nostalgisch schön hingegen, wie liebevoll Deep Purple als Urväter der hier allgegenwärtigen Musikrichtung aufgenommen werden. Bevor die Oldtimer in die "Black Night" entlassen, liegen sich Ü60er und U20-Festivaltouristen schon zu "Smoke On The Water" (liebes)trunken in den Armen und duellieren sich gegenseitig an der Luftgitarre. Schmacht.
Eine solche Aufmerksamkeit wird In Flames abschließend nicht mehr zuteil: Nach anfänglichem Verweilen herrscht hier plötzlich Unruhe, ausgerechnet zum "Jester Race"-Klassiker "Moonshield" setzt die Massenflucht ein. Frontgesicht Anders Fridén hat sichtlich Mühe, das Publikum zu begeistern, nach seiner knappen Deep Purple-Huldigung ("They're the reason why we exist!") ist dann spätestens "Only For The Weak" die pure hingerotzte Lustlosigkeit anzuhören. Aber no need for sympathy: Der Tag war ja auch so schön.
Sonntag: Schweiß und Freudentränen
"Graveyard is officially re-opened for business." Hach Jungs, schön, dass ihr die Kurve bekommen hat. Viel zu schade wäre es um die schwedische Vollblutmusiker-Combo gewesen, deren Schweiß sich hier gerade als überdimensionale Salzwasser-Pfütze auf den Bühnenboden ergießt. Es ist noch mal richtig heiß geworden am letzten Graspop-Tag. Kühlende Wassertropfen haben die wenigstens der Anwesenden in den letzten Tagen auf ihrer Haut verspürt. Weder in Form von Regen, noch im durchaus einladenden Ambiente eines Duschcontainers.
Die heavy Blues-Rocker spielen sich im beheizten Zelt unseres Vertrauens verdammt noch mal den Arsch ab, Mastodon tun es ihnen auf der Hauptbühne gleich – greifen dabei aber ein bisschen zu tief ins Pathos-Kästchen. "It's great to be back at the best festival in the world", brüllt Troy Sanders. Eh, ja gut, Troy, Kollege, wenns hier so geil ist, wie wäre es denn, wenn ihr euch abwechslungshalber mal nicht zehn Minuten vor offiziellem Schluss ins Backstage verzieht?
Nostalgie mit Amy Lee
Etwas mehr her machen da völlig unerwartet Evanescence. Das neunzigminütige Programm von Frontfrau Amy Lee zirkuliert in erster Linie nach wie vor um den 2003er Achtungserfolg "Fallen", eine wirkliche bunte Alternative hat nach sechs Jahren Studioabstinenz aber auch niemand erwartet. Eine kritische 'Lass uns mal reingucken'-Haltung ist die Folge, deren Fassade aber schneller bröckelt als gedacht: "Going Under", "My Immortal" – spätestens "Bring Me To Life" kitzelt das 15-jährige Ich aus vielen zutätowierten Vollblut-Metallern heraus. Bei so viel Nostalgie kann man sich schon mal gehen lassen.
Auch mit neuem Material überzeugen dafür nach wie vor Opeth, die die Marquee-Stage dann auch als eine der wenigen Bands bis zum Anschlag füllen – ob das ins Zelt hineinwummernde Programm der Mainstage überhaupt als würdige Konkurrenz zu bezeichnen ist, sei mal dahingestellt. "So is that Rob Zombie?", fragt Grundsympath Mikael Åkerfeldt die verächtlich johlende Menge. Froh sei er, dass seine Truppe nicht als Gegenspieler zu den Scorpions antreten müssten. "No-one would be here. Not even my bandmembers." Die Rufe der "Sorceress"-Jünger spricht eine klare Sprache: Wir wären immer da.
Rock You Like A Hurricane
Und wie sollte eines der größten europäischen Metalfestivals dann auch anders enden als mit einer der größten deutschen Metal-Vorläufergruppierungen. Reichlich Spott und Häme mussten die Scorpions für ihre Never-ending-Abschiedstour einstecken – im Gegenzug werden sie hier und heute aber mit mehr als einer Ansage als wichtiger Einfluss gewürdigt.
Ehe mit "Going Out With A Bang" dann aber der Eröffnungstrack des finalen-oder-doch-jetzt-vielleicht-doch-nicht-finalen Studioalbums "Return To Forever" erklingt, steigt der Altersdurchschnitt im Infield dann noch mal erheblich. Mag die jüngere Generation sich nur noch bedingt mit der dauersolierenden Gitarrenmusik identifizieren können, so huschen im entscheidenden Moment doch wirklich jedem Anwesenden die essentiellen "Wind Of Change"- und "Rock You Like A Hurricane"-Zeilen über die Lippen. Der elterlichen Plattensammlung sei Dank.
Denn das Graspop steht für ein generationsübergreifendes Musikerlebnis. Auch 52 Jahre nach der Scorpions-Gründung sind es Veranstaltungen wie diese, die zeigen, dass diese Musik für hunderttausende Menschen noch immer eine Herzensangelegenheit bleibt.
Lieber Heavy Metal: We're still loving you.
1 Kommentar
Großartiges Festival! Nicht nur die 2017er Ausgabe sondern ganz allgemein. Immer wieder gerne!