Matthias Manthe über das Hypegenre Chillwave und die Fuckparade als Techno-Gegenentwurf zum kommerziellen Massenevent Loveparade.

Berlin (mma) - Sie produzieren allein am Laptop oder in kleiner Gruppe, hegen schwer nostalgische Gefühle für 80er-Synthpop, intonieren sommerliche Zerstreuung bzw. Verblendung – und werden unter dem Schlagwort "Chillwave" zusammengefasst. Seit Acts wie Neon Indian, Toro Y Moi oder Washed Out 2009 im Blog "Hipster Runoff" aufgrund ähnlicher Produktionsweisen und eines spezifischen LoFi-Sounds auf diesen gemeinsamen Nenner reduziert wurden, diskutieren On- und Offline-Welt.

Coyote Clean Up

Ist eine solche Kategorisierung über offenbare musikalische Unterschiede hinweg legitim? Lässt sich ein Kreis von Indietronica-Produzenten unter dem Banner Chillwave einordnen, obwohl zwischen den jeweiligen Akteuren oft geografisch keinerlei Verknüpfung besteht? Und nicht zuletzt: Was sagt es über den Zustand der traditionellen Popberichterstattung aus, wenn neuerdings Blogschreiber die Initialzündung geben für Genrebegriffe, über die anschließend New York Times und Wallstreet Journal - mit einiger Skepsis - berichten?

Neon Indian

"Recession-era music: low-budget and danceable", bemüht sich besagte Times um Umgrenzung eines Sounds, der neben dem Hang zum verhallten Schwermut vieler 80er-Produktionen stark von prozessierten Ambient-Klängen und Shoegaze-Schwärmereien zehrt. Rezession hin oder her, die Phase übersteuerter 8-Bit- und French-House-Sounds scheint mit Chillwave jedenfalls tatsächlich endgültig beendet.

Anstatt auf Dancefloor-Hedonismus vertrauen Genreführer wie Salem aus Michigan, Small Black aus Brooklyn und Coyote Clean Up aus Detroit auf die überschaubaren Mittel ihrer Synthesizer. Die grellen Neonfarben tauschen diese Akteure gegen verwischtes Pastell, hektische Videoclipschnitte gegen nostalgisch dahinfließende Landschaftsaufnahmen.

Washed Out

Ist Chillwave letztlich aber bloß ein Sommertrend? Dagegen spricht, dass die "Bewegung" nicht nur den vergangenen Winter überlebt, sondern mit Millionen Plays auf den üblichen digitalen Musikplattformen 2010 noch einmal an Schlagkraft gewonnen hat. Das Revival der Balearic Disco via Studio oder Air France (beide aus Schweden) liefert weitere Indizienbeweise für eine Evolution in Richtung weitläufigen, Loop-lastigen Traumpops. Gleiches gilt für den Dubstep-induzierten Gold Panda, die Psychedelic-Elektronica Caribous oder die ätherischen Momentaufnahmen von Solid Gold.

Air France

Das Bemerkenswerteste am aktuellen Diskurs bleibt jedoch sicherlich der Kreationsmythos. In einer Zeit, in der das technische Equipment zur Erschaffung elektronischer Miniaturen in jedem Computer steckt und die globale Vernetzung einen unübersichtlichen Informations- und Distinktionsozean gebildet hat (in dem jeder Konsument und Produzent zugleich sein kann), scheint sich die konsequente Loslösung von den hierarchischen Strukturen herkömmlicher Popvermittlung zu vollenden: Es herrscht weitgehende Autarkie.

Gold Panda

Mehr denn je steht deshalb insbesondere die Printlandschaft vor der Herausforderung, den Nachteilen behäbiger Veröffentlichungszyklen ein Mehr an Reflexion gegenüberzustellen. Die Sensation Seeker da draußen sind ohnehin in der Überzahl. Wer nicht hinhört, sich einmischt und kontextualisiert, sägt ohne Zutun am eigenen Leserstamm.

Wider den Konsum und Loveparade

"Seit dreizehn Jahren konsumgeil, unpolitisch und gehorsam!", unter diesem ironischen Motto stand am Samstag die alljährliche Fuckparade in Berlin. Weil die Parade ursprünglich als konkrete Gegenveranstaltung zum kommerziellen Massenevent Loveparade gedacht war, schossen im Vorfeld die Spekulationen aus dem Techno-Acker. Wie würden die gut 4.000 Teilnehmer auf die Todesfälle von Duisburg reagieren? Pietätlosigkeiten und herbere Seitenstiche gegen das Feindbild blieben zum Glück aus.

Beim Start des nachmittäglichen Umzugs von Mitte nach Friedrichshain gab es stattdessen eine Schweigeminute für die Opfer der Loveparade, der auch deren Gründer Dr. Motte beiwohnte. Anschließend zog man mit 15 Wagen und dröhnendem, meist an der härteren Gangart geschultem Techno durch die Innenstadt.

Erwartungsgemäß groß fiel die inhaltliche Schnittmenge der Slogans mit den Proklamationen der Megaspree-Demonstrationen aus, wobei sich die Fuckparade noch stärker als ihr Anti-Gentrifizierungs-Pendant der Subkultur verpflichtet fühlt. Seit "unpopuläre" Techno-Stile wie Gabba und Hardcore vielerclubs aus dem Sichtfeld verschwunden sind, positioniert sich die Veranstaltung etwa explizit gegen die Dominanz von Minimal Techno.

Dem Musikspektrum entsprechend abwechslungsreich fiel auch das Straßenbild der Demonstranten aus: Vom klassischen Raverlook über Digital Punks bis zum linksalternativen Aussteiger erstreckte sich der Fächer und bewies, dass sich im kulturellen Kosmos Berlin selbst kleinste Szenen nicht wegmarginalisieren lassen. Unterdessen zogen Kleinfamilien wie Seniorenausflügler am Straßenrand ihre Kameras, ohne sich über den lärmenden Aufzug zu beschweren. Toleranz und Miteinander statt elitärer Türsteherpolitik - eventuell gar ein kleines Stück tradiertes Techno-Utopia?

Berlin-Korrespondent Matthias Manthe berichtet in seiner wöchentlichen Kolumne über Themen, die wir gegen seinen ausdrücklichen Wunsch "indie" nennen. Feedback und Anregungen gerne direkt an matthias@laut.de.

Fotos

Solid Gold

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