laut.de-Kritik
Über PJ Harvey und ein gebrochenes Herz.
Review von Giuliano BenassiDie erste Reaktion: Schock. Der Typ, der in seinem bisherigen Werk zahllose Menschen einen brutalen Tod erfahren ließ, saß plötzlich alleine am Klavier, um über sein aufgewühltes Innenleben und sein gebrochenes Herz zu singen. Natürlich auf seine eigene Art:
But I know, darling, that you do
But if I did I would kneel down and ask Him
Not to intervene when it came to you
Not to touch a hair on your head
To leave you as you are
And if He felt He had to direct you
Then direct you into my arms
So die ersten Zeilen des Openers "Into My Arms". Auf seinem vorherigen Album "Murder Ballads" (1996) hatte Nick Cave in "O'Malley's Bar" in vierzehn Minuten zwölf Menschen auf grausame Weise umgebracht ("And with an ashtray big as a fucking really big brick, I split his skull in half"), nun sinnierte er plötzlich darüber, ob Gott in das aktuelle Weltgeschehen eingreife. Aus seiner Sicht nicht, aber wenn Er es täte, dann möge Er doch bitteschön seine Angebetete in seine Arme führen.
Es musste etwas Gravierendes in Caves Leben geschehen sein. In der Tat schrieb er das Lied auf Entzug in einer Klinik. "Man durfte sonntags in die Kirche, wenn man wollte. Ich lief also von der Kirche zurück durch die Felder, und da kam mir diese Melodie in den Kopf, und als ich in die Einrichtung zurückkam, setzte ich mich an das launische, alte Klavier und schrieb die Melodie und die Akkorde, ging dann wieder hoch in den Schlafsaal, setzte mich auf mein Bett und schrieb den Text.
Ich erinnere mich an diesen Junkie, der neu auf der Station und vollkommen fertig war, von Wunden übersät, der sich selbst mit Axe einsprühte - als würde das irgendwas ändern -, und er sah mich an und sagte: Was machst du da? Und ich antwortete: Ich schreibe einen Song. Und er sagte: Warum?", erinnert sich Cave 2022 in dem wunderbaren Buch "Glaube, Hoffnung und Gemetzel"
Ja, warum? Die Drogen, oder der Mangel davon, waren nicht die unmittelbare Antwort, denn Cave brauchte noch einige Jahre, bis er davon loskam. "Da sitze ich nun, auf dem Boden meiner Wohnung in Notting Hill, die Sonne scheint durch das Fenster (vielleicht), ich fühle mich gut und habe eine talentierte und schöne junge Sängerin zur Freundin, als das Telefon klingelt. Ich nehme den Hörer ab und es ist Polly. 'Hi', sage ich. 'Ich möchte mit dir Schluss machen.' 'Warum?!' frage ich. 'Es ist einfach vorbei', sagt sie. Ich war so überrascht, dass ich fast meine Spritze fallen ließ", erinnert er sich Cave auf theredhandfiles.com, seiner lustigen, traurigen und stets lohnenswerten Leserbriefe-Seite (wer es im Original nachlesen möchte: Issue #57).
Polly ist PJ Harvey, mit der Cave eine kurze, aber intensive Affäre hatte. Tatsächlich handeln einige Stücke unmittelbar von ihr ("West Country Girl", "Black Hair", "Green Eyes"). Die gescheiterte Ehe mit der Brasilianerin Viviane Carneiro und die Zukunft ihres gemeinsamen Sohnes Luke spielten ebenfalls eine Rolle ("Where Do We Go Now But Nowhere?"). Von welchen der beiden Frauen "(Are You) The One That I've Been Waiting For?" handelt, bleibt offen.
Nicht nur die Texte waren eine Abkehr von Caves bisheriger Musik. Seine treue Begleitband The Bad Seeds, die bis dahin jedes Gemetzel in ein passendes Klangkostüm zu kleiden wusste, trat mehrere Schritte zurück. Etwas Schlagzeug und Bass hier, Orgel und Gitarre da, aber stets im Hintergrund. "Es gibt nur wenige Bands auf der Welt, die verstehen, dass nicht zu spielen genauso wichtig sein kann wie das Gegenteil", lobte Cave die Bad Seeds auf The Red Hand Files. Im Prinzip hätte er sie auch gleich weglassen können, wie er es 2020 bei einem Soloauftritt im Londoner Alexandra Palace tat. Der Titel jenes Albums, "Idiot Prayer", war nicht zufällig ein Lied aus "The Boatman's Call".
Gleich sechs Stücke stammten bei diesem gespenstischen Auftritt ohne Zuschauer (Corona) aus dem Album, denn gleich mehrere haben sich zu Klassikern entwickelt, mit hörenswerten Coverversionen. Mark Lanegan etwa interpretierte "Brompton Oratory", Lloyd Cole "People Ain't No Good". "Into My Arms" inspirierte Roger Daltrey, Ellie Goulding, Ane Brun.
"The Boatman's Call" leitete eine neue Phase in Caves Schaffen ein. Fast schien es, als würde er in Leonard Cohens bedeutungsschwangere Fußstapfen treten, selbst wenn er zwischendrin mit Grinderman ordentlich auf den Putz haute. Letztlich dauerte es aber bis "Push The Sky Away" (2013), um mit den Bad Seeds wieder zu alter Stärke zu finden. Die Tragödie um den Tod seines Sohnes Arthur 2015 hat erneut einen neuen Cave hervorgebracht, aber das ist eine andere Geschichte.
Mit "The Boatman's Call" habe er lange seine Probleme gehabt, berichtet Cave auf The Red Hand Files. "Nach der Veröffentlichung war es mir irgendwie peinlich. Ich hatte das Gefühl, dass ich zu viel preisgegeben hatte. Diese ultrapersönlichen Lieder erschienen mir plötzlich als ausschweifende, selbstsüchtige Verstärkung dessen, was im Grunde eine gewöhnliche, alltägliche Prüfung war. Das ganze Drama, die Tragödie und das Gerangel ekelten mich an, und das sagte ich auch in Interviews.
Mit der Zeit lernte ich jedoch, dass der Ekel im Wesentlichen die Angst und Scham von jemandem war, der in unsicheren Gewässern zwischen zwei Booten schwamm - Lieder, die fiktiv waren, und Lieder mit autobiografischem oder bekenntnishaftem Charakter. In meinem Songwriting vollzog sich trotz meiner selbst eine radikale Veränderung, und solche Veränderungen können dazu führen, dass man sich extrem verletzlich, defensiv und aufgekratzt fühlt", erklärt er.
Böse Gefühle hege er aber keine, besonders nicht gegenüber PJ Harvey. "Ich erinnere mich gerne an unsere gemeinsame Zeit, es waren glückliche Tage. Der Anruf tat weh; aber da ich nie eine gute Krise verschwendet habe, machte ich mich daran, 'The Boatman's Call' fertigzustellen".
Eine gewöhnliche, alltägliche Prüfung, die zu einem außergewöhnlichen, zeitlosen Album führte. Mit einem wunderbaren Coverfoto von Anton Corbjin.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 18 Antworten
Habe ich im Vergleich zu anderen Scheiben der Seeds als etwas lahm und für meinen Geschmack zu betont frömmelnd in Erinnerung. Da war mir euer erster Band-Stein, "Let Love In" z.B. deutlich näher.
Ist aber länger her und bestimmt mal wieder einen Anlauf wert, die Rezi macht da auch angemessen Bock drauf und mit "People Ain't No Good" ist für mich trotz (Bemühens um) gegenteilige(r) Haltung tatsächlich ein Übersong dabei.
Wenn man die wahren Übersongs, nämlich zwölf an der Zahl, nicht erkennt und einen der schwächeren Nummern als Übersong betitelt, dann kennt man sich nicht wirklich aus. Es ist schlicht und ergreifend ein perfektes Album. Wenn das einem lahm vorkommt, dann liegt der Fehler beim Hörer und dessen mangelnde Fähigkeit, Songs zu genießen. Ist wie in der Kulinarik und beim Sex. Wer schnell etwas erledigt haben will, ist intellektuell etwas unterentwickelt und kennt Genuss nur als abstraktes Konzept, das er grundsätzlich nicht versteht.
Halt doch mal dein Maul!
Wie einsam und unkultiviert er im echten Leben sein muss, um so erbärmlich damit zu hausieren.
Es ist wirklich, wirklich furchtbar.
Äppli ist echt eine dermaßen erbärmliche Wurst, der die soziale Inkompetenz in jeder Sekunde so schmalzig aus allen verdammten Poren seines um sich selbst gewickelten Naturdarms trieft, dass er nie die Pfanne vorab fetten muss, in die er sich hier regelmäßig selber haut.
@A r
Na, ist mein Lieblings- denn jetzt auch ein legitimer Übersong oder nicht? Da müsstest du dich schon entscheiden, finde ich
Ansonsten Hut ab, ich empfinde dich als mir weltanschaulich eigentlich deutlich nähereren Typen mittlerweile sogar nochmal als einige Etagen unsympathischer als braungelbe Deppen wie diovysos.
Huch, der Pöbel betritt die Bühne.
Muss ein total schönes Leben zu sein, alle außer sich selbst als primitiven Pöbel zu betrachten.
Tja, es kann nicht jeder aus dem Loch der Hundsgewöhnlichkeit in höhere Spähren aufsteigen. Ich kommentiere nur die Realität. Also kein unflexibler Blick aus dem eigenen Ich, sondern die pure, ungefilterte Wahrnehmung der Realität. Ich kann nix dafür, wenn die vermeintlichen Edelsteine am Ende nur wertlose Steinchen sind. Ich blicke ja, geistig flexibel wie ich bin, auch auf mich und die Welt herab, während ihr nur aus eurem Loch guckt und nicht viel von der Welt mitbekommt.
Die Realität kennt ein Wort für das, was du da fühlst und erlebst, Äppli. Wir von hier nennen es gemeinhin Psychose.
Soweit würd ich nicht gehen. Komplexe tun's auch. Und hier damit aufzufallen ist schon große Kunst, da schließt sich der Kreis.
Ist an der Stelle auch schon völlig egal, ob es vorgetäuschter Größenwahn zum Generieren von Aufmerksamkeit als Substitution für nicht erhaltene Zuwendung und Bestätigung aus dem individuellen sozialen Umfeld ist oder ein echter Wahn im Rahmen einer schizophrenen oder schizoformen Störung - für alle Mitlesenden außerordentlich unangenehm und die (pseudo-)wahnhaft uneinsichtige Person in högschdem Maße beschämend liest sich so ein in jeder Hinsicht unangebrachter Selbstbespiegelungs- und/oder Projektionsmüll in jedem Fall erneut.
Warum füttert Ihr den Spinner immer wieder?
Mischung aus unentgeltlicher Psychoedukation zur gesellschaftlichen Aufklärung, altrustischem Dienst für ggf. heranwachsende und bedenklich leicht zu beeinflussenden Mitlesende sowie fortlaufendem Rotationsplan bei der Zuständigkeit für Kommentarspaltenhygiene, die auf unerfahrenere muppets häufiger mal wie regelmäßige Trollfütterung wirken kann.
Außerdem hat dieses Exemplar ja auch eine gewisse Drolligkeit in seiner vermeintlichen Überlegenheit.
Den kann man einfach nur rein menschlich nervig finden und muss sich nicht noch irgendwelches verschwurbeltes Nazi-Gewäsch anhören.
Das ist ja nach den Pfosten, die in letzter Zeit hier so aufgetaucht sind, fast schon erholsam.
Da muss ich Güldi recht geben.
Reg nicht auf Theory9. Applemac reloaded sein Muppet inkludiert zumindest seit Neuestem ein ungesundes Maß an Selbstreflexion. Möge der Fall nicht zu hart sein
Kann da sowohl den generellen Konsens als eines der Diskographie-Highlights als auch Kubis Zurückhaltung teilweise nachvollziehen. Mehr als ein Übersong ist mMn definitiv dabei, würde eher sagen das halbe Album besteht aus Übersongs. In seiner Länge und Gesamtheit find ich's dann aber doch auch etwas zu grau, monoton und gesetzt. Ist dann vielleicht auch repräsentativ für die Entzugsphase in der die Songs entstanden sind.
Find's also auch vielleicht einen Ticken überhyped, wenn auch trotzdem sehr stark. Mein liebstes melancholisches Cave-Album ist dann wahrscheinlich tatsächlich "No More Shall We Part".
Na endlich mal ein echter Meilenstein. Nicht die üblichen Luftnummern.
Hab mal zweieinhalb Durchgänge nachgelegt die Tage, richtig revolutioniert hat sich mein Blick auf die Platte aber nicht. Bis einschließlich People Ain't No Good auf Kurs Überalbum, danach wird es mir einfach der Form nach zu dröge (und biblisch), um den darin vollzogenen Seelenstrip angemessen zu würdigen, erst ab Black Hair macht mir das Ganze auch wieder richtig Spaß beim Zuhören.
Worauf ich aber eigentlich noch hinweisen wollte: Die Rezi ist (noch) nicht in die Diskographie eingebettet, vll. könnt ihr das ja noch nachholen
Bestes Nick Cave-Album. Immer noch ziemlich ergreifend, wenn man sich darauf einlässt.
Das Schwesterablum, stilistisch gesehen, Nocturama, ist von den Songs her für mich etwas besser.
Wenn es aber um einen weiteren Meilenstein geht, wäre And no more shall we part für mich der geeignetere gewesen.