21. April 2022

"Ich war der Einzige, der sich gewehrt hat!"

Interview geführt von

Nigel Kennedy ist nicht nur einer der Superstars der Klassikszene, sondern auch eine ihrer schillerndsten Figuren. Dabei ist der britische Violinenvirtuose, der 1989 mit seiner Interpretation von Vivaldis "Die vier Jahreszeiten" eines der meistverkauften Klassikalben aller Zeiten veröffentlichte, nicht nur in Sachen Image und Attitüde viel mehr Rockstar als prototypischer Klassik-Musiker. Auch seine Zusammenarbeiten mit der Rockwelt - unter anderem mit Led Zeppelin-Sänger Robert Plant — beweisen dies eindrucksvoll.

2021 erschien Kennedys Autobiografie "Uncensored!”, die nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. In "Nigel Kennedy: Mein rebellisches Leben" erzählt Kennedy von Ausbildung und Rebellion, seiner Zeit mit den berühmten Violinisten Yehudi Menuhin und Stéphane Grappelli – aber auch von seiner ausgeprägten Liebe zu Fußball. Kennedy ist einer, der von Snobismus und der hochgezogenen Augenbraue der Klassikwelt nichts hält — das macht er auch in unserem Gespräch deutlich. Dabei gibt sich Kennedy sprachlich fast schon gallagher'esk-bodenständig und benutzt auch das Wort "fuck" in all seinen Variationen in aller Ausführlichkeit.

Nigel, vor dreißig Jahren haben Sie mit dem Buch "Always Playing" schon mal Memoiren veröffentlicht — drei Dekaden später erschien nun ihre ausführliche Autobiografie "Uncensored". Wie unterschieden sich die Schreibprozesse? 

Nun, beim letzten Buch habe ich einfach alles in ein Diktiergerät gesprochen. Dann hat mein Manager das aufgeschrieben und in eine Reihenfolge gebracht. Er dachte sich sogar Titel für die Kapitel aus. Bei diesem Buch hingegen habe ich alles selbst geschrieben. Ich hatte zwar Hilfe von meinem Verlag bei der Reihenfolge der Kapitel — einfach, weil ich viele Kapitel geschrieben habe. Ich habe das Schreiben wirklich genossen, es war eine Art kathartische Erfahrung, in die Vergangenheit zu blicken — denn ich bin eigentlich nicht der Typ Mensch, der ständig in die Vergangenheit blickt. Ich schaue immer auf die Gegenwart und die Zukunft. Aber ab und zu ist es eine gute Idee, einfach mal zurückzublicken und zwei und zwei zusammenzuzählen. Dann weiß man, warum der ganze Scheiß passiert ist und wieviel Glück man hatte.

Führen Sie Tagebuch?

In gewisser Weise wünschte ich, ich würde hätte das getan, aber, wissen Sie, morgens stehe ich auf und übe Geige. Ich habe also eine Art musikalisches, chronologisches Tagebuch in meinem Kopf. Abends möchte ich dann aufhören, über mich selbst nachzudenken, denn die Arbeit mit der Musik setzt viel Selbstkritik voraus. Man denkt darüber nach, wie man die Dinge zum Laufen bringt. Am Ende des Abends würde ich gerne etwas anderes lesen, einen Roman, etwas, das mich in eine andere Welt versetzt. Ich lese gerne die Tagebücher anderer Leute, weil es interessant ist, zu sehen, wie ihre Gedanken funktionieren und wie sie auf verschiedene Ereignisse des Tages oder der Woche reagieren.

Haben Sie eine Schreibroutine entwickelt?

Ein bisschen zumindest. Zunächst war es eher schwierig, einen solchen Tag zu finden, bevor die Pandemie begann. Aber dann hatte ich plötzlich eine Menge Zeit, in der ich keine Konzerte hatte und zu Hause saß. So entwickelte ich eine Routine. Ich schrieb morgens vielleicht eine Stunde, nachdem ich etwas Geige gespielt hatte. Am Nachmittag machte ich dann einen langen Spaziergang oder ging joggen, ehe ich dann am späten Nachmittag noch daran arbeitete, dann zu Abend aß und anschließend noch etwas schrieb. Meistens schrieb ich also dreimal am Tag, manchmal waren es auch nur zwei. Aber zumindest habe ich jeden Tag den Stift zu Papier gebracht. Im Nachhinein hatte ich viel zu viel Material. Also machte ich regelmäßig eine Art Aufräumaktion, alle zehn Tage oder so. Ich entledigte mich der Dinge, die keinen Sinn machten.

Sie hatten jede Menge zu erzählen, das Buch ist ziemlich umfangreich geworden.

Ja, und mir wurde gesagt, dass es auf Deutsch noch schlimmer ist, weil es anscheinend etwa 100 Seiten länger ist als auf Englisch.

Was mir in den Geschichten über Ihre Schulzeit aufgefallen ist, ist, dass Sie schnell nicht nur einen ausgeprägten Bullshit-Detektor, sondern auch schon früh ein dickes Fell hatten, eine Fuck-you-Attitüde. Liegt das in ihrem Naturell oder haben Sie diese Resilienz erst entwickeln müssen?

Ich glaube, das passierte plötzlich, als ich etwa 13 Jahre alt war — denn damals wurde ich zu einer sehr, sehr strengen Geigenlehrerin versetzt. Ich war der Einzige von meinen Mitschülern, der sich gewehrt hat. Ich dachte: 'Scheiß drauf, wenn ich von der Schule fliege, bin ich sogar froh!' — denn eigentlich wollte ich gar nicht an diesem Ort sein. Wenn ich also rausgeschmissen worden wäre, hätte es mir also nichts ausgemacht. Dann habe ich aber begonnen, mich zu wehren — und plötzlich mochte mich diese Lehrerin. Dann war sie sogar sehr hilfsbereit und sie mochte meine Musik. Das war eine sehr frühe Erkenntnis, dass ich ich selbst sein kann. Selbst wenn ich in das Studio der Professorin ging und mir der Schlamm von den Kleidern fiel, weil ich davor Fußball gespielt und mich nicht umgezogen hatte, hörte sie sich trotzdem mein Geigenspiel an. Das hat mir gezeigt, dass Musik wichtiger ist als das eigene Aussehen — und dass es nicht schlimm ist, man selbst zu sein.

"Ich denke eher darüber nach, wie ich besser werden kann."

Diese Furchtlosigkeit wurde aber sicher auch dadurch verstärkt, dass Sie wussten, wie gut Sie sind, nicht?

Nicht wirklich, denn ich halte mich nicht für einen großen Musiker. Ich denke, dass ich manchmal in der Lage bin, die Energie der Menschen um mich herum anzuzapfen oder eine positive Energie zu haben, die aus dem Boden und aus dem Kosmos kommt. Oder, ich weiß nicht, woher sie kommt, aber es ist eine Art positive Energie. Wenn du also gute Musik spielst und kommunizierst, ist es nicht so, als ob du die Musik machen würdest. Man wird man zu einem Vehikel für diese erstaunliche Energie der Musik und der Positivität — oder vielleicht nicht nur der Positivität, sondern verschiedener Aspekte der Energie. Ich ziehe es einfach vor, mich auf die positiven Aspekte der Energie zu konzentrieren, aber man braucht beide Arten von Energie. Ich wache wie gesagt nicht auf und denke, wie gut ich bin. Ich denke eher darüber nach, wie ich besser werden kann.

Also hatte die Schule einen großen Anteil daran – und Ihre Gleichgültigkeit dieser gegenüber.

Es gab dort viele talentierte Schüler aus ganzen Welt. Es war also nicht so, dass es einfach gewesen wäre, der Beste in der Schule zu sein. Aber ich fand heraus, dass ich mit etwa 25 % der Arbeit genauso gut sein konnte wie alle anderen. Das war vielleicht keine brillante Entdeckung, weil es bedeutete, dass ich nicht so hart arbeitete, wie ich es hätte tun können. Aber es gab mir ein gewisses Selbstvertrauen, zu wissen, dass andere Leute stundenlang arbeiten mussten und ich es in einer Stunde schaffen konnte.

Eine sehr wichtige Person in Ihrer Biografie war Stéphane Grappelli, ich fand es bemerkenswert, wie Sie ihn beschreiben. War er für wesentlich dafür, dass Sie nie Gefahr liefen, ein Musiksnob zu werden — schließlich arbeiteten Sie früh mit diesem sehr universell denkenden Musiker zusammen.

Das war definitiv eine große Hilfe, um einen rationalen Zugang zur Musik zu finden und nicht zu denken, dass eine Art von Musik oder Person besser ist als eine andere. Die Menuhin-Schule hat mir auch sehr dabei geholfen, denn damals, in den 1960er-Jahren, war es nicht die Norm, dass so viele verschiedene Rassen und Religionen an einem gemeinsamen Ort, in einem geschlossenen Raum waren. Stéphane Grappelli hat mir den Moment des Jetzt gezeigt, und wie wertvoll das für das Musikmachen oder sogar für das Leben selbst ist. Stéphane war ein großartiger Künstler. Er genoss jede Sekunde des Musizierens, er hatte stets ein Lächeln im Gesicht. Er unterhielt sich mit anderen Leuten aus dem Publikum und war immer aufgeschlossen, nicht wie die klassischen Künstler oder die Rockmusiker, die das Publikum manchmal nicht mal grüßen wollten. Beim Jazz war es eher so, dass die Leute zusammen abhingen, die Zuhörer waren selbst Musiker. Und so war es eine viel gesündere Art von Gemeinschaft rund um den Jazz, den er spielte.

Es gibt auch eine bemerkenswerte Szene, in der Sie beschreiben, wie Grappelli mal meint: "Das ist 'good pour les touristes'". Meinte er damit, dass Musik nicht so elitär sein sollten?

Bis zu einem gewissen Grad bedeutete es das, aber er schaute schon auch auf die seiner Meinung nach billigsten Formen der Musik herab. Aber was ich gesehen habe, ist, dass er wusste, was funktioniert und was den Leuten gefällt. Er fühlte sich nicht zu fein, ihnen das zu geben, was sie wollten. [Kennedy summt eine einfache Melodie] Er hat das gespielt, auch wenn es nicht die größte Herausforderung für ihn als Jazzmusiker war. Aber er hat es geliebt, die Melodie zu spielen und er hat etwas von sich selbst in diese Melodie eingebracht.

Was würden Sie sagen, war das Wichtigste, das Sie von Yehudi Menuhin gelernt haben?

Ich würde sagen, die Offenheit anderen Menschen gegenüber. Er war aber pazifistischer als ich, ich bin ein bisschen kämpferischer. Wenn mich jemand herausfordert, dann antworte ich und versuche zu gewinnen. Wissen Sie, Menuhin war nicht daran interessiert, irgendetwas zu gewinnen. Er stand irgendwie über all dem — auch spirituell. Er hatte eine Offenheit gegenüber verschiedenen Formen der Musik in einer Zeit, in der die meisten klassischen Musiker niemals Jazz hörten oder damit gesehen werden wollten. Ich meine, sein Jazzspiel war nicht großartig, er war ein ziemlich schlechter Jazzspieler. Aber Tatsache ist, dass er so offen dafür war, Jazz zu spielen. Er erkannte zum Beispiel, was für ein großer Meister Stéphane Grappelli war und verhalf ihm zu mehr Öffentlichkeit. Stéphane war zu jener Zeit ein vergessener Mann, der für 100 Dollar die Woche in kleinen Clubs spielte. Yehudi verhalf Stéphane zu der Anerkennung, die er verdiente.

Umso überraschender war dann die Szene, in Sie mit Menuhin ein gemeinsames Beethoven-Konzert spielten — und er darauf bestand, dass Sie genauso spielen wie er. Worauf hin Sie meinten, Sie würden es entweder auf Ihre eigene Art spielen oder es ganz bleiben lassen.

Das war das Ding: Menuhin ist der beste Menuhin der Welt, ich könnte nur der zweit-, dritt- oder viertbeste Menuhin sein. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aber bereits gelernt, mich direkt auf Beethoven zu beziehen. Wie man sich die Partitur der Musik anschaut: Was hat Beethoven geschrieben? Was verstehe ich von dem, was er will? Das konnte mir kein anderer sagen, das musste zwischen Beethoven und mir passieren und dann konnte ich es dem Publikum weitergeben. Ich musste in den Vibe kommen, ins Idiom der Musik — und nicht die Meinung eines anderen anhören. Meine Beziehung zu Yehudi durchlief vier Phasen. Es gab die erste Phase, in der ich ihn als siebenjähriges Kind kennenlernte. Er war diese charismatische, gottähnliche Figur. Dann gab es die zweite Phase, in der er sah, wie ich begann, meine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und weniger Ehrfurcht vor den Dingen um mich herum zu entwickeln. Er unterstützte das voll und ganz gegenüber den Professoren an der Schule, die der Meinung waren, dass ich etwas unterwürfiger sein sollte. Es gab eine dritte Phase, in der ich meinen eigenen Weg fand, in New York lebte und dann nach Europa zurückkam, und meine eigene Art hatte, die Dinge zu interpretieren. Das war der Punkt, an dem wir in verschiedene Richtungen gingen. Dann gab es eine vierte und letzte Phase, eine Art Versöhnung, in der ich ihn zu Hause besuchte und wir viel über Bach und Musik im Allgemeinen sprachen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass es auch in niedergeschriebener Musik viel Freiheit gibt. Ich kann das nur paraphrasieren: Dass ein toter Komponist nicht bestimmen kann, wie das Wetter am Tag der Performance ist, wie Sie sich fühlen.

In gewissem Sinne ist es so, dass all diese improvisatorischen Qualitäten sogar in niedergeschriebener Musik gibt. Was bedeutet "laut"? Wenn jemand "forte" schreibt: wie laut soll es wirklich sein, wie leise, welches Tempo? Niemand weiß das tatsächliche Tempo, wie viele Schläge pro Minute. Beethoven dirigierte sein Concerto, das ich ziemlich oft spiele. Wie viele Schläge pro Minute? Das ist Ansichtssache, das ist eine Frage des Gefühls. Die Klangfarbe, die man erzeugt, das ist ein anderer Bereich der Freiheit. Spiele ich mit Vibrato? Spiele ich straight und ohne Vibrato? Nutze ich eine etwas höhere Intonation oder eine etwas tiefere? Wenn es sich um traurige Musik handelt, möchte man vielleicht die Intonation etwas tiefer machen, damit die Leute etwas deprimierter sind, wenn sie es hören. Wenn es sich um fröhliche Musik handelt, sollte man die Tonhöhe etwas höher wählen, um die Leute zu erheitern. Das sind alles Ansichtssachen und oft kommt es auf den Moment an. Wie ist das Gefühl? Wie ist das Publikum? Nicht ganz aufmerksam? Dann musst du etwas leicht Schockierendes machen, sodass es dir zuhören muss. Oder wenn es hustet, spiel super leise. So kann dich niemand hören, es sei denn, sie sind leise. Verschiedene Dinge, die du tun kannst, die dem Moment entsprechen, im Gegensatz zu dem, was in einem Buch steht.

Warum glauben Sie, gibt es in Teilen der klassischen Welt so einen Fetisch für Statik — wo man über alles, was auch nur minimal vom Niedergeschriebenen abweicht, die Nase rümpft?

Sogar innerhalb dessen, was aufgeschrieben ist, haben viele eine so enge Sichtweise davon — einfach weil die Leute zu viel gelehrt werden. Es wird zu viel gelehrt. Ein Boxer wie, ich weiß nicht, ob Sie Boxen beobachten — aber nehmen wir mal Anthony Joshua. Er ist ein bisschen zu straff und er ist zu sehr auf die richtige mentale Einstellung und das richtige Training fixiert. Dann gibt es jemanden wie Usyk, der viel kleiner ist, aber er hat ein verdammtes Gehirn, und er wird auf den Moment reagieren. Oder Tyson Fury, der der größte Klumpen Schmalz oder Butter ist, den man je in einem verdammten Boxring gesehen hat, aber er ist der beste Boxer von allen. Es kommt auf die Mentalität an. Jemand, der zu sehr trainiert ist, kann fantastisch aussehen. Aber es gibt ein oder zwei andere Kämpfer, die ihren Instinkt nutzen können und diesen Motherfucker in den Schatten stellen. So ist es auch mit der Musik, es ist genau dasselbe. Wenn man zu viel gelehrt bekommt, werden die Dinge automatisch, und man denkt, man weiß genau, was man tut. Wir wissen nie genau, was wir tun, weil wir nicht wissen, was auf uns zukommt. 

Wenn wir nochmal Box-Vergleiche bemühen wollen, dann müssen wir auf eine weitere wichtige Person in ihrem Leben zu sprechen kommen: John Stanley, Ihr Manager — der sowas wie Ihr Trainer war. Er boxte Sie gegen große Labels durch, gab Ihnen das nötige Selbstvertrauen.

Ich glaube, John Stanley war eher ein Muy-Thai-Künstler oder bei der MMA. Er hat eine verdammte Plattenfirma zu Boden gerungen, hat den Mann einfach umgehauen. Weißt du, es war der Hammer. Er war einfach phänomenal. Er sah aus wie Gandalf aus diesem Film, wie hieß der nochmal?

"Herr der Ringe".

Ja, er sah aus wie Gandalf aus "Herr der Ringe" und er mietete sich einen Rolls Royce. Er hatte keinen Rolls Royce, er mietete sich einen. So konnte er zur Plattenfirma fahren und gesehen werden, wie er aus einem Rolls Royce stieg. Denn bei einer Plattenfirma geht es nur um solche Statussymbole und darum, Geld zu verdienen. So respektierten sie ihn, weil er offensichtlich viel Geld haben musste — weil er aus einem Rolls Royce stieg! Er wusste also genau, wie er psychologisch mit ihnen auf ihrer eigenen Ebene umgehen musste. Und er wusste, wie man eine Vision schafft, für die es sich lohnt zu arbeiten, was im Grunde genommen Plattenverkäufe bedeutet. Er hat mich wirklich sehr unterstützt, weil er zu dieser Plattenfirma ging. Er sagte zu ihnen: "Was wollt ihr? Den zweiten Yehudi Menuhin? Den zweiten Nathan Milstein?  Oder wollt ihr den ersten Nigel Kennedy haben, in dem Fall habt ihr die Chance, nicht nur 8.000 Platten zu verkaufen, ihr könntet viel mehr verkaufen, wisst ihr, ihr könntet ein paar 100.000 verkaufen. Wir hätten nie gedacht, dass es so gut laufen würde, wie es gelaufen ist. Aber er hatte eine viel größere Vision als irgendjemand sonst. Es gab noch einen anderen Manager, mit dem ich zusammenarbeitete, der ein wirklich großartiger Typ war, Jazz Summers. Aber der neigte zu körperlichen Gewaltausbrüchen. Wenn eine Plattenfirma nicht das tat, was sie tun sollte, dann ging er rein und warf Tische um oder schlug jemanden zusammen. Die hatten echt Angst vor ihm. Sie taten, was er wollte, weil sie keine weitere Szene haben wollten. Er sagte aber: "Ich habe noch nie jemandem in einer Plattenfirma ernsthaft geschadet. Obwohl, weißt du, ich habe einen von ihnen in einen Schrank gesperrt, als er rassistisch ausfällig gegen meine Frau wurde." Das war cool, Mann. Aber er kam auch mit etwas sehr Schönem daher, als er zu mir sagt: "Weißt du, es macht mir nichts aus, wenn ein Künstler von mir nur fünf Exemplare verkauft ... das ist gut genug, denn die Musik hat fünf Menschen mehr erreicht, als wenn wir nichts tun würden." Er hatte also in vielerlei Hinsicht eine sehr gute Einstellung. Aber John Stanley war eine Art Stratege. Er ging einfach zu EMI und übernahm alles und blieb dort, sie mussten ihm sogar ein Büro geben.

John Stanley war also ein Meister der Kriegsführung.

Ja, er hat den Raum von innen heraus besiegt, er war das trojanische Pferd. Er ist fantastisch, er ist ja immer noch am Leben. Er macht aber nicht mehr viel in dieser Richtung, weil er schon etwas älter ist. Er hat so ziemlich alles erreicht, was man in diesem Bereich des Lebens erreichen möchte. John ist auch selbst ein sehr guter Künstler. Er macht wunderschöne Skizzen und Strichzeichnungen mit Holzkohle. Er hat also auch diese Seite an sich. Er kann auch gut schreiben. In gewisser Weise wende ich jetzt das, was ich von ihm gelernt habe, auf die meisten Manager an, die ich hatte.

Beim Jazz hat man manchmal das Gefühl: Scheiße, die Typen wollen mir was beibringen!

Abgesehen von Ihrem eigenen Werk, was würden Sie sagen, war Ihre größte Errungenschaft für die klassische Musik? War es, Künstler zu ermutigen, die nicht wirklich der Norm entsprachen, nach vorne zu kommen und ihr Ding zu machen? Oder die klassische Musik für ein Publikum zu öffnen, das zuvor Berührungsängste mit diesem Genre hatte?

Ich glaube, das war meine beste Leistung: Leuten dazu zu bringen, klassische Musik zu hören, in ein Konzert zu kommen oder das "The Four Seasons"-Album zu hören - Leute, die es dann tatsächlich genossen haben, ohne diesen Druck zu spüren. Wissen Sie, klassische Musik hat eine große Mystik an sich. Da gibt es dieses Wissen, von dem "normale Menschen" glauben, dass es Klassiker besitzen. Dabei haben sie dieses Wissen in Wahrheit gar nicht. Wir wissen nur: Mögen wir es oder nicht? Das ist das einzig wichtige an Musik: Turnt es mich an oder ab? Das sind die zwei Möglichkeiten. Es spielt keine Rolle, ob du ein Gehirn hast, das dich wie einen verdammten Eierkopf aussehen lässt, oder ob du ein Walnussgehirn hast. Ich habe glücklicherweise Freunde mit beiden Arten dieser Köpfe. Jemand mit einem Eierkopf könnte sich viele Argumente ausdenken, warum diese Musik entweder scheiße oder gut ist. Aber darum geht es nicht. Ich brachte Leute dazu, in den Konzertsaal gehen, ohne sich unwohl zu fühlen. Diese Leute entdeckten eine Form von Musik, die sie dann kauften, um später mehr von dieser Musik zu hören. Das war meine größte Leistung, abgesehen von meiner eigenen Musik.

Glauben Sie, dass dieses elitäre Denken auch im Jazz Einzug gehalten hat?

Ich glaube, das ist mittlerweile auch beim Jazz so. Die Welt des Jazz ist ein bisschen so geworden wie die Welt der Klassik: Jeder geht auf eine Hochschule und die Musiker sind stolz darauf, wie kompliziert sie etwas machen können. Es gibt viele sehr wertvolle Aspekte der Musik. Aber sie kompliziert zu machen, gehört nicht dazu. Ich glaube, in der Jazz-Bruderschaft gibt es einige, die zwar nicht die Größten sind, aber die auf einem sehr, sehr guten Niveau spielen - und die zu stolz darauf sind, wie kompliziert sie sein können. Du gehst nie auf eine Party und willst mit dem intellektuellsten Mitglied der verdammten Runde in einer Ecke stecken bleiben. Das ist das Letzte, was man will. Beim Jazz hat man manchmal das Gefühl: Scheiße, die Typen wollen mir was beibringen! Ich will nicht irgendeinem verdammten schlauen Bastard zuhören müssen.

In Ihrem Buch haben Sie auch Dialoge mit einer Reihe von Menschen aufgenommen, die nicht mehr unter uns weilen, darunter Ihr Großvater, Jimi Hendrix und Beethoven. Können Sie uns ein wenig über die Idee erzählen, einen Dialog mit Ludwig van aufzunehmen?

Ich liebe ihn, weil er der erste Rebell in der Musik war. Ich meine, auch Mozart wurde am Ende ein bisschen rebellisch. Aber Beethoven war so ziemlich von Anfang an ein Rebell, jedenfalls nach den ersten zehn Jahren seiner Karriere, und er hat die Dinge in jeglicher Hinsicht verändert. Da ist etwas mit seiner Musik, und dasselbe gilt für Jimi Hendrix, es gab einfach eine unmittelbare Verbindung. Diese erstaunliche Sprache Beethovens, die Menschlichkeit und diese neue, lange, gestreckte Struktur. Es ist etwas, das mich ins Herz trifft, und ich kann mich einfach damit identifizieren. Deshalb habe ich das Gefühl, dass ich mit jemandem wie Beethoven oder Jimi Hendrix einen Dialog führen kann. Ich kann das nicht mit vielen toten Menschen - mein Großvater gehört da auch dazu. 

In Ihrem Gespräch mit Hendrix analysiert er sogar seine eigenen Stücke, Sie sprechen über bestimmte Songs, und er sagt, ja, das ist wie eine kosmische Symphonie. Und das dort ist der Refrain. Das fand ich großartig. Was hat Sie an Hendrix so fasziniert?

Seine Persönlichkeit war fantastisch. Sein Gitarrenspiel war etwas, das man zuvor nie gehört hatte. Aber eigentlich waren es gar nicht seine Kompositionen, die mich am meisten mit seiner Musik verbanden, sondern die Offenheit der Musik, die völlige Weigerung, sich in eine Kategorie einzuordnen. Okay, man hört vielleicht ein bisschen Isley Brothers darin, aber er macht keine Motown- oder Soul-Musik. Mit "Little Wing" hat man ein wenig Folk in der Melodie, aber er macht auch keinen Folk. Aber er trägt all diese Aspekte der Musik in sich, in einer Art kosmischen Seele. Er umfasst alles. Er ist für viele Leute eine Einführung in ganz andere Musikrichtungen, ohne dass er dabei etwas erklären muss. "Third Stone from the Sun", das ist Fusion-Jazz-Rock, man könnte diese Dinge mit einem Etikett versehen, aber bei ihm ist es immer größer als ein Etikett. Einem erkundungsfreudigen Typen wie mir gefällt mir diese Freiheit, einen transzendenten Aspekt zu erkennen. Jimi war einer der ersten, der diese Art von transzendentaler Musik gemacht hat, diese schöne harmonische Sequenzen, auf die andere Leute zu der Zeit nicht gekommen sind. Irgendwie war Hendrix immer mit der Erde und dem Kosmos verbunden, er hatte diese Offenheit. Ich habe diese Form von spiritueller Realität nie in der Musik eines anderen gehört.

Das Video des Gesprächs in ungekürzter Form und im englischen Original:

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1 Kommentar

  • Vor einem Jahr

    Cooler Typ, der Nigel Kennedy. Hab als Kind immer die CD "Nigel Kennedy's Greatest Hits" gehört. Am besten gefiel mir immer der Frühling von Vivaldi und "Melody Of The Wind" – was die einzige von Kennedies Eigenkompositionen auf dem Album ist, wie ich erst vor kurzem festgestellt habe.