30. November 2023

"Teddy Teclebrhan war meine Wildcard"

Interview geführt von

Reisen war immer ein zentrales Thema für ihn, doch wie verträgt sich das mit dem Klimaschutz? Patrice erzählt von Bio-Vinyl und umweltfreundlichen Touren, aber auch von der Schwierigkeit, nicht in Routinen hängen zu bleiben, wenn man seit Jahrzehnten im Geschäft ist.

Man trifft sich immer mindestens zweimal, heißt es. In diesem Fall stimmt es: In einem früheren Leben, es liegt inzwischen locker zwanzig Jahre zurück, habe ich Konzerte veranstaltet. Zu meinen ersten Bookings gehörte ein damals blutjunger Newcomer, der gerade seine Debüt-EP "Lions" veröffentlicht hatte. Ein hibbeliger Typ mit Gitarre, wie wir davor und danach nie wieder einen nervöseren im Backstage sitzen hatten. Ein Jahr später landete er mit "Ancient Spirit" einen Erfolg, und wer Patrice heute auf einer Bühne sieht, käme im Traum nicht auf die Idee, dass Lampenfieber jemals ein Thema für ihn war.

Für mich ist das hier ein totaler Full-Circle-Moment. Du erinnerst dich ganz sicher nicht, aber wir sind uns schon einmal begegnet. Das müsste so 1998 oder '99 gewesen sein ...

Wow! (Lacht)

"Lions" war da gerade neu, "Ancient Spirit" noch nicht draußen, und du bist bei uns in Konstanz an der Uni auf einer Party aufgetreten, als Support der Silly Walks.

Ja!!! Das stimmt!

Ich war damals eine der Veranstalter*innen und ich erinnere mich deswegen so genau, weil du so unfassbar Lampenfieber hattest, dass wir uns fragten, ob wir überhaupt verantworten können, dich auf die Bühne zu schicken.

(Lacht lauthals). Ja. Ohje.

Höchstens zwei Jahre später hab' ich dich im Gebäude 9 in Köln gesehen und war echt superbaff, was du dir da in der kurzen Zeit für Rampensau-Qualitäten draufgeschafft hattest.

Mann! Das ist witzig, weil, dieselbe Story: Ein heutiger Freund von mir, der hat mich damals gebucht, und der hat AUCH gehadert, ob er das verantworten kann. Ich sah wohl so aus, als wär' ich so aufgeregt, dass das alles eine Riesenkatastrophe wird. Vor allem: Das war ja voll. Das war eine Riesenhalle. Aber dann auf der Bühne gings. Ich weiß aber noch, ich musste mein Knie am Barhocker festklemmen, weil es so gezittert hat, dass ich die Gitarre dort nicht abstellen konnte. Meine Finger haben so geschlackert, ich musste mich da richtig rumwickeln, damit ich überhaupt anfangen konnte. Auf der Bühne gings dann aber meistens. Das Problem war eher die Zeit davor.

Ist das immer noch so schlimm?

Nee, gar nicht. Das Witzige ist: Ich erinnere mich da auch gar nicht so dran. Das war eher etwas, das andere gesehen haben. Ich persönlich kam mir immer gar nicht so aufgeregt vor. Ich war einfach nur aufgeregt, wahrscheinlich. (Lacht) Aber heutzutage: überhaupt nicht. Wenn man das sein ganzes Leben macht ... ich fühl' mich auf der Bühne wohler als manchmal woanders. Ich hab' keinerlei Lampenfieber mehr.

Schön zu hören. Aber eigentlich wollen wir ja nicht über alte Kamellen reden, sondern über dein neues Album. Das heißt "9", hat neun Songs, und ich habe gelesen, es sei "eng mit der Symbolik der Zahl neun verbunden". Welche Symbolik hat diese Zahl denn für dich?

Zum einen ist es meine Lieblingszahl. Sie steht für Geburt. Man gedeiht neun Monate. Eine Schwangerschaft dauert 270 Tage, da kommt man auch auf neun. Es gibt viele, viele Symboliken drumherum, es gibt Leute, die meinen, es sei die Schlüsselzahl des Universums. Wir haben neun Systeme in uns, und so ein System auch neun Körper. Man findet die Neun immer wieder. Interessant ist auch: Man geht aus einem Kreis raus, in einen neuen. Man lässt den alten Kreis hinter sich und macht sich auf, in einen neuen. All so Sachen. Und das stimmt. Für mich war das jetzt auch so ein Abschluss, mit dem Album davor in mein eigenes Archiv reinzugehen und die Best-of-Songs dann neu aufzunehmen. Das war für mich auch so ein bisschen ein Abschließen mit einem gewissen Kapitel, und mein neues Album, "9", ist dann die Wiedergeburt.

Klingt, als hättest du dich ausgiebig damit befasst. Hast du einen Bezug zu Zahlenmystik und solchen Dingen?

Hmm ... (überlegt) ja, also ... wir alle haben eine Lieblingszahl. Vielleicht nicht alle, aber ich schon. Für mich haben Zahlen Bedeutungen. Es gibt ein paar Zahlen, die sich überall wiederfinden, und manche haben eine besondere Eigenschaft. Da ist irgendwas Besonderes an der Zahl. Die Neun ist meine Lieblingszahl.

Ich hab' außerdem gelesen, du empfindest die Neun ... als blau?

Ja. (Lacht) Ich kann das sehen. Wenn ich mir Zahlen vorstelle, haben die alle Farben. Okay, ich frag' dich jetzt auch: Wenn du der Zahl Sieben eine Farbe geben könntest, welche wär' das?

Rot.

Ah? Okay.

Ich fürchte, das liegt daran, dass ich vom Fernsehen verseucht bin und da einfach die rote ProSieben-Sieben sehe.

(Lacht) Ach, so. Also, für mich ist die Acht rot, und für mich ist die Sieben grün. Und neulich hab' ich jemanden gefragt, und der hat gesagt: 'Sieben? Grün! Aber nicht so ein dunkles, sondern eher frühlingshaft.' Aber, ja. So hat jeder seine eigene Realität.

Hast du diese Synästhesien nur bei Zahlen oder auch in anderen Bereichen? Fließt das in deine Arbeit ein?

Auf jeden Fall hab' ich das auch in anderen Bereichen, und auf jeden Fall fließt das ein. Ich mach' mir ein Bild, auch bei Videos ... Ich versuch' schon, das dann so auszudrücken, wie ich das vor meinem inneren Auge sehe.

Wenn ich über ein Album noch schreiben will, versuch' ich, vorher möglichst nichts drüber zu lesen, um meine Eindrücke nicht zu verfälschen. Ich fand witzig, dass ich mir notiert hatte, das sich das Album zum einen wie eine Reise anfühlt, und stellenweise, als sitze man in völliger Ruhe im Auge eines Sturms, während rundherum das Chaos tobt. DANN les' ich im Pressetext was von der Vogelperspektive eines Tornados ... da muss ich schon mal einen Glückwunsch aussprechen: Wenn du dieses Bild im Kopf hattest, ist dir gut gelungen, das zu vermitteln.

Wow. Großartig.

Wie gehst du an so ein Album heran? Hast du Bilder im Kopf, die du vertonen willst?

Ja, teilweise. Aber meistens fängt es mit einer Melodie an. Dann nehm' ich mir die Gitarre. Aber klar hab' ich eine innere Welt, eine gefühlte, und dann folg' ich dem Gefühl, wo mich das hinleitet. Ich hab' Assoziationen, das bringt mich auf gewisse Ideen. Ich versuch' halt, dem Gefühl treu zu bleiben. Man hat ja immer so Lieblinge, die man gerne unterbringen will, und das versuche ich einfach nicht. Ich versuche, mich da in den Hintergrund zu stellen. (Lacht) Das ist nicht leicht. Aber wenn man so viel gemacht hat, und schon so lange, dann steckt die Schwierigkeit darin, nicht in so Patterns zu verfallen. Die Herausforderung wird natürlich jedes Mal größer.

Wie vermeidest du, in Routinen zu verfallen? Änderst du deine Arbeitsweise? Oder den Ort? Wie brichst du aus, aus so Mustern, die sich ja zwangsläufig irgendwann einschleifen, wenn man eine Sache so lange macht wie du?

Genau all diese Sachen. Ich werfe immer wieder alles um. Ich versuche, mich immer wieder in Situationen zu bringen, in denen ich eine Art Anfänger bin, so dass ich eben nicht so rangehe: Oh, ja, ich weiß, wie es geht, so und so. Sondern auf eine Anfänger-Art. Zum Beispiel der Move jetzt nach Jamaika war deswegen. Oder manchmal holt man sich auch einfach fürs Studio ein neues Toy, mit dem man sich dann ausprobiert. Oder man arbeitet mit neuen Leuten. Ich arbeite auch oft mit Leuten, die gar keine Ahnung haben, wer ich bin.

Das kann aber anstrengend sein.

Ja, ja! Aber ich bitte darum, dass es anstrengend wird!

"Wenn Menschen uninspiriert in die Zukunft gehen, wird das nichts"

Um noch einmal auf das Reise-Bild zurück zu kommen: Ich hatte das Gefühl, da klingt von mehreren Kontinenten was durch. Jamaikanische Vibes, afrikanische Einflüsse, "No Want" klang sehr nach Afrika, für mich ... Reisen ist für dich ja immer ein großes Thema gewesen.

Ja, auf jeden Fall, und das Album selbst hat auch eine Reise hinter sich: angefangen in Köln, dann auf Jamaika, in Kingston, am Ende hab' ich alles noch einmal überarbeitet in Dakar, im Senegal. Das hat all diese Dinge in sich. Ich glaub', um wirklich da hinzukommen, wo ich gerne hinwill, geh' ich gerne auf Reisen und versuche, mich selbst und wo ich herkomme aus einer anderen Perspektive zu sehen. Eine neue Perspektive zu gewinnen, auf sich selbst und darauf, wo man eben noch war, das ist auf jeden Fall ein Grundthema bei mir.

Mit dem Klimaschutzgedanken im Kopf sind Fernreisen inzwischen ja nicht mehr so unbedenklich. Hat sich dein eigenes Reiseverhalten verändert?

Ja. Wir machen relativ viel innerhalb unserer Tourneen. Wir touren mittlerweile elektrisch, mit zwei E-Autos. Wir machen Initiativen, dass die Leute mit Carsharing ankommen, oder dass wir komplett auf Plastik verzichten. Die Veranstalter und die Veranstaltungsorte haben auch echt nachgebessert, was das angeht. Aber das ist natürlich relativ klein, im Vergleich zu so 'nem Long-Distance-Flug. Aber ich flieg' jetzt auch nicht so viel. Aber es ist schon auch ein Geschenk, dass wir in einer Zeit leben, wo das möglich ist. Es würde viel, viel weniger Konflikte und wahrscheinlich auch weniger Kriege geben, wenn sich die Leute auf ehrliche Art und Weise austauschen würden. Schüleraustausch müsste komplett obligatorisch sein. Aber man müsste es auf eine Art und Weise machen, die den Leuten wirklich erlaubt, in eine neue Kultur einzutauchen. Dann sehen sie das Leben aus einer ganz anderen Perspektive, und sich selbst auch. Und auch generell: Was wir alleine in unserer sogenannten Ersten Welt alles so einfach nur durch unser Dasein ausstoßen, das ist ja kein Vergleich zur südlichen Halbkugel. Das ist ein ganz anderes Level. Ich will das aber gar nicht so schwarz malen. Wir könnten eigentlich auf einem guten Weg sein. Viele sind es auch. Man sieht schon, dass sich Dinge tun. Klar kann man jetzt sagen, das geht alles nicht schnell genug. Aber das Gute daran ist, dass es passiert. Ich denke, dass jetzt ein generelles Bewusstsein dafür da ist, dass nach und nach auch die Psychologie sich verbessert und wir alles auf jeden Fall reduzieren können.

Prinzipiell glaub' ich auch, dass wir alle Möglichkeiten hätten. Wir müssten uns aktuell halt Gedanken über Klimafragen machen. Statt dessen befassen wir uns mit dem Krieg in der Ukraine, mit der Eskalation im Nahen Osten ... Deinen Optimismus, dass es besser wird, hätte ich auch gerne. Wo nimmst du den her?

Na, ich glaube, es bringt mehr. Das Glas ist halb voll oder halb leer. So, wie man es gerne hätte. Es ist besser für das was man erreichen will und für die Zukunft, als wenn man das Gegenteil sieht. Weil: Man muss inspirieren, damit es gut wird. Ich glaube, wenn Menschen uninspiriert in die Zukunft gehen, dann wird das nichts.

Das klingt gut, das möchte ich glauben. Du scheinst ja ohnehin ein Bewusstsein für Umweltschutz-Fragen zu haben: Dein Album erscheint auf "Bio-Vinyl". Was hat es damit auf sich?

Genau, es ist eins der ersten, die aus diesem Presswerk kommen. Das ist wirklich (lacht) altes Frittenfett. Ich sag nur, deutsches Erdöl. Aber, ja! Ich hab' das gegengehört, und es klingt genau so gut, mindestens, wie das andere, und ist natürlich fortschrittlich. Für mich stellt sich eher die Frage, warum das nicht alle machen. Die Wege sind kürzer, es klingt genau so gut, es riecht nicht nach Fritten - ich hab' daran gerochen. Natürlich riecht man da erstmal dran.

Das ist, ohne Scheiß, altes Frittenfett?

Ja! Und das ist topp! Das ist richtig, richtig cool, und es spricht nichts dagegen! Es spricht eigentlich alles dafür. Wir versuchen, an allen Ecken das zu tun, was geht, das rauszuholen, was geht, und da sind wir jetzt auch weit vorne. Die Künstler müssen wirklich nachziehen. Das liegt nicht an den Bookern, das liegt nicht an den Firmen. Das liegt an den Künstlern selbst.

Ja, klar. Wenn die Künstler sagen: Ich will das aber so, was sollen dann alle anderen auch machen?

Genau, ja! Und es ist auch noch was zu tun. Für viele Künstler ist es so 'ne Art Statussymbol, wie groß der Bus ist und mit wie vielen Trucks sie da ankommen. Es ist an und für sich komplett sinnlos, das braucht man nicht mehr unbedingt. Aber das lassen die sich einfach nicht nehmen. Ich seh' das ja jetzt hier, bei der Frankreich-Tour. Wir kommen da hin: Wir bestehen auf Mülltrennung. Wir bestehen auf kein Plastik. Wir kommen mit E-Autos da an und brauchen Strom. Die Veranstalter sind da alle voll dabei. Das ist richtig cool, wie sie uns dabei unterstützen und mitmachen. Von der ersten Tour zu der jetzigen Tour hat man dann auch einen Riesenunterschied gesehen. Mittlerweile ist das alles total normal, auch unabhängig von uns.

Cool. Was zum Besseren verändert.

Ja! Es sind kleine Dinge. Wenn paar tausend Leute kommen und bisschen Plastik sparen: Das sind kleinere Dinge. Aber es geht auch ums Inspirieren. Auch darum, einen Space zu schaffen, der für alle so safe ist, dass die vielleicht Bock auf Carsharing haben, dass das auch sicher und gut ist. Wir machen Kooperationen mit den Städten, was öffentliche Verkehrsmittel angeht, damit es Möglichkeiten gibt, gut zu den Konzerten hinzukommen, ohne dass jeder einzeln mit dem Auto fährt.

Klingt gut. Trotzdem von der Tournee-Orga noch einmal zurück zur Musik: Wie eingangs festgestellt, verfolg' ich die schon ziemlich lange, und für mich war und ist immer das Krasseste daran, dass jeder Song so voller Kontraste steckt. Zum Beispiel "Become Who You Are": Ich kenn' eigentlich niemanden sonst, der zugleich so todeserschöpft und dabei so kraftvoll klingen kann wie du jetzt wieder in "Become Who You Are". Dieses Spektrum: Ist das eine bewusste Entscheidung?

Kann ich gar nicht sagen. Ich fühl' das dann so, und dann setz' ich das um. Dann mach' ich das so.

Ich stell' gerade fest, dass ich gar nicht weiß, wer deine Duettpartnerin in "Never Will I Let You Go" ist.

Sie heißt Simi, das ist eine nigerianische Sängerin, die wirklich großartig ist. Sie singt toll.

Abgesehen von ihr hast du bewusst auf Featuregäste verzichtet?

Es muss sich irgendwie ergeben. Wir leben natürlich in einer Featurekultur, das ist ja auch Marketing ... ich find' das ein bisschen lästig. Klar, wenns passt, kann man das machen. Aber ich find', es muss sich irgendwie auf natürliche Art und Weise ergeben.

"Ein ehrenhafter Versuch ist für mich schon ein Erfolg"

In einem ur-uralten Interview mit meinem Kollegen - das ist auch schon zwanzig Jahre her, das müsste so zu "Nile"-Zeiten gewesen sein - da sagtest du, du schließt dich beim Aufnahmeprozess ins Studio ein und holst dir gar keine Meinungen von außen ein, bis du wirklich fertig bist. Arbeitest du immer noch so?

Richtig, bei "Nile" hab' ich wirklich so gearbeitet. Das war auch richtig gut so. Ja, grundsätzlich schon. Ich glaub', ich kann mit Feedback jetzt besser umgehen. Früher hat mich das richtig aus dem Konzept gebracht, weil das dann mein Gefühl verfälscht. Der Tag, an dem ich das jemandem vorspiele, ist so besonders. Ich hab' das Gefühl, vor allem, wenn die andere Person gar nichts dazu sagt, dass ich das irgendwie mit an Bord nehme, wie diese Person das fühlt. Ich hatte gerade vor zwei Tagen 'ne Listening-Session mit Fans. Wir haben uns das Album angehört, und ich kann das dann auf ganz neue Art und Weise wahrnehmen. Ich bilde mir ein, das alles zu fühlen, wie die Leute das aufnehmen. Und das ist zum richtigen Zeitpunkt voll gut, weil mir das wieder 'ne Art neue Perspektive auf meine Sachen erlaubt. Aber zum falschen Zeitpunkt vermischt sich das dann mit meiner, und dann weiß ich nicht mehr genau, was was ist.

Du brauchst also kein Feedback für den Entstehungsprozess?

Nee. Die Wahl von einem Produzenten ist mir schon wichtig. Ich bin besser darin, andere zu produzieren als mich selbst, weil ich zu mir keinen Abstand habe. Andere Leute holen aus mir andere Sachen raus. Die holen mich noch mehr aus meiner Komfortzone raus, pushen in eine andere Richtung, und so. Deswegen ist das manchmal wichtig, dass es da noch jemanden anderes gibt.

Wessen Meinung ist dir bei der Entstehung eines Albums denn wichtig?

Ähmmm ... (überlegt) ich glaub' ... (überlegt sehr lange) von niemandem? So richtig? Außer mein Herz. Das ist ein Fluch und ein Segen, aber ich bin sehr judgy. Ich hab' starke Meinungen zu Dingen, auch einen relativ ausgeprägten Geschmack. Das kann anstrengend sein für andere, weil ich diesen Anspruch dann an alle habe, die da mit mir gerade sind. Aber das heißt auch, dass ich eigentlich einen relativ guten Kompass dafür habe, dass etwas gut ist. Viele sehen das als Riesenvorteil an mir – aber auch viele als Nachteil. Heutzutage ist wirklich das Problem, dass so viel Marketing in der Art und Weise steckt, wie Alben gemacht werden. Da sitzt dann noch ein A&R mit drin, jeder hat 'ne Meinung, keiner weiß genau, wovon er redet, aber jeder tut so ... Das kann superanstrengend für Produzenten sein, wenn die mit einem Künstler arbeiten, der nicht genau weiß, was er will oder wo er hinwill. Dann kommen andere Meinungen, und es geht tausendmal hin und her, und oft wird das Lied dann schlechter gemacht. Deswegen find' ich das irgendwie richtiger, wenn da ein echter Mensch sitzt, der weiß, was er will oder was er nicht will und nicht nur so tut. Dann kann man sich wirklich auseinandersetzen, mit echten Meinungen. Alles andere ist sehr schwierig.

Wer alleine arbeiten und sich auf die eigene Meinung verlassen kann, war während der Pandemie natürlich klar im Vorteil.

Ja, mir geht es mehr um den Versuch, was Großes zu schaffen, als jetzt um das Ankommen. Ich komm' eh nie wirklich an. Immer, wenn ich denke: Woah, du hast dich mal so richtig getraut, das war ein ehrenhafter Versuch, dann ist das für mich schon ein Erfolg. Ich glaub', das ist ein bisschen das Geheimnis im Leben. Hätte ich das Ziel irgendwann erreicht, würd' ich ja nicht weitermachen. Ich denke, es ist ein Fehler, unzufrieden zu sein, wenn das Erreichte nicht zu hundert Prozent dem entspricht, was man ursprünglich vorhatte. Ich glaub', man muss das dann anerkennen und sagen: Hey! Das war ein ehrenhafter Versuch! Du hast alles rausgeholt, was du halt konntest, in dem Moment. Und es werden auch wieder neue Momente kommen, dann kannst du es ja nochmal versuchen. Wenn man das nicht macht, dann verbessert und verbessert man den Schaffensprozess, man kritisiert sich, und dann kommt man einfach nicht zu Potte. Dann wird nichts fertig, und wenn es dann fertig ist, hat man es so lange überarbeitet, dass da kaum noch irgendein guter Impuls drinne ist, keine Seele.

Die Kunst ist also, den Moment zu finden, in dem man loslassen muss?

Auch, ja. Das ist total wichtig, dass man damit okay ist. Dass man mit seinen Makeln okay ist. Das lern' ich natürlich auch sehr, wenn ich andere Musiker produziere: Jeder will die Dinge, die er an sich nicht so mag, irgendwie wegretuschieren. Meistens sind das aber genau die Sachen, die einen interessant machen. In dem Fall hilft einem der Produzent dann dabei. Er redet einem Mut zu. Das hat fast schon etwas von einem Therapeuten.

Wollte gerade sagen: Das klingt eher nach Händchenhalten als nach Handwerk.

Ja. Ist es auch. Es ist wirklich 90 Prozent das.

Hör' ich da heraus, dass wichtiger ist, dass es zwischenmenschlich passt?

Ab-so-lut! Ja, absolut.

So, jetzt noch eine dumme Frage: Letztes Jahr, irgendwann rund um den Summer Jam, hab' ich dich sagen hören, du hättest während der Corona-Zeit mehrere Alben und EPs aufgenommen. Soweit ich das mitbekommen habe, ist 2022 ein Album erschienen, und jetzt "9". Hören wir da noch Lockdown-Material?

(Lacht) Lockdown-Material!! Ähem ... jaaaaeeein. Ich hab' enorm viele Lieder aufgenommen und hab' da neun ausgewählt. Das meinte ich damit. Diese Alben und EPs sind nicht rausgekommen. Nicht weil sie nicht gut genug sind, sondern: Ich wollte, dass es irgendwie rund wird, und dann hab' ich nach dem Kriterium ausgewählt, dass es zueinander passt und dass es homogen wird. Aber die anderen kommen vielleicht hier und da auch noch raus. Vielleicht nicht alle hundert, aber auf jeden Fall noch mehr Lieder aus dieser ganzen Zeit.

Wogegen ich überhaupt nichts hätte: mehr Weihnachtslieder. Mit dieser Weihnachts-EP damals hast du mich nämlich kalt erwischt. Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet.

(Lacht)

Ich bin ein Riesenfan von Weihnachtsmusik, damit rennt man bei mir offene Tore ein. An diesem Weihnachtsding fand ich am krassesten auch wieder den Kontrast, super-schwüles, sommerliches Rocksteady-Zeug - in Weihnachtsliedern, verrückt!

Ja, ich fand, das passt zusammen. Und das gabs so auf einer Platte auch noch nicht. Da dachte ich mir: Warum nicht? Es ist ja auch witzig, Weihnachten auf Jamaika zu feiern. Da gibt es auch Tannenbäume, aber die muss man schon relativ weit oben holen, aus dem hochgelegenen Land.

Am meisten geflasht an der EP hat mich aber, dass da zwischen diesen ganzen jamaikanischen Legenden auf einmal ... Teddy Teclebrhan stand? Und wieso kann der so singen? Wie kam das denn?

(Lacht) Teddy ist einer meiner besten Freunde, und ich dachte mir: Man hört ihn nie so richtig singen, aber er ist ein großartiger Sänger.

Echt mal. Ich mag den als Comedian gar nicht so gern, aber da? Alter, das ist ein Soulsänger! Wieso wusste ich das nicht?

Das ist es, genau. Deswegen dachte ich: Das ist die Wildcard. Jedes Album muss so eine Wildcard haben, irgendwas, das komplett aus dem Off kommt, das man gar nicht erwartet. Und, ja: DAS war die Wildcard.

Glückwunsch dazu. Das hat gut funktioniert. Besteht irgendeine Chance, dass wir da einen Nachschlag bekommen?

Ja, eine große! Vor diesem Interview war ich an dieser Weihnachtsplatte am Arbeiten. Es wird ein Lied geben von Ken Boothe, das ist gerade in der Mache, "Christmas Song". Ken Boothe ist auch so eine riesige Rocksteady-Legende ... und ein Lied von Lary aus Deutschland. Lary singt "All I Want For Christmas". Da machen wir eine Rocksteady-Version draus.

Oh, cool! Wann kommt das?

Na, digital wird es auf jeden Fall noch vor Weihnachten erhältlich sein. Aber ich hoffe, ich schaffe noch rechtzeitig, auch Vinyl davon zu pressen. Das hängt aber noch vom Presswerk ab. Der Plan war, diese Weihnachts-EP jedes Jahr ein bisschen zu erweitern, damit man immer wieder neue Stücke dazubekommt.

Wenn das kein Weihnachtsgeschenk ist ... vielen Dank!

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