laut.de-Kritik

Jeder Takt klingt nach Kalkül.

Review von

Ein Klassiker der Psychologie ist das Buch "Social Equality" von Rudolf Dreikurs aus dem Jahr 1971. Darin nimmt der Autor von der Universität Chicago an, dass konservative Leute das Handeln ihrer Mitmenschen und deren Charaktereigenschaften in erster Linie der Biologie, den Erbanlagen, dem Geschlecht, Festlegung in der DNA zuordnen würden. Progressive, politisch linksorientierte Menschen sähen dagegen die Erziehung, prägende Lebenserfahrungen und soziales Umfeld als Hauptursachen. Die Theorie versagt bei Rea Garveys Breitwand-Pop-Album "Halo".

Der Tränendrüsen-Drücker schafft es bizarrer Weise, sich gleichzeitig als wohlmeinender selbst ernannter Sozialpädagoge um die Befreiung seiner Fans von ihren Fesseln zu kümmern und sich als fortschrittlich zu inszenieren. "Ich denke, das ist die Person, die ich im Leben der Menschen, die ich liebe, sein möchte, um da zu sein, wenn es schwierig ist, und ihnen wieder auf die Beine zu helfen", erläutert der Sänger. Gleichzeitig aber scheint er an ein biologistisches Weltbild zu glauben, laut dem unser 'wahres Ich' ein vorbestimmtes Naturell sei, gegen das uns 'die' ('die' anderen? 'die' da oben?) zu verstoßen zwingen. Dem Titellied "Halo" gemäß komme es darauf an, unser wahres Selbst zu verkörpern. Der Weg dort hin sei ein Kampf, in dem wir Unterstützung bräuchten. "Für mich geht es in 'Halo' um die Großartigkeit, die in Menschen steckt", so Rea. Eingeschworen auf diese seichte Soße vom Schlag eines Horoskop-Textes fügt sich die Musik wenigstens stimmig und bläst ins gleiche Horn.

An flachen Weisheiten schüttet Garvey geradezu ein Füllhorn aus und lässt auf Album-Länge kaum eine Minute ohne mindestens eine derbe Plattitüde verstreichen: "Geld kann keine Zeit erkaufen", "money can't buy you time", "Liebe verletzt, und es ist eine gute Art Schmerz", "Dieses Leben ist zu schwer, wenn du nichts hast, woran du glaubst", "this life's too hard, when you have nothing to believe in", ein ödes Aufgebot. Solchen Pauschalurteilen ordnen sich eine Reihe schlechter Gefallsucht-Kompromisse in der Musik zu, diese ordnet sich der Trivialität unter. Zum Beispiel als lässiger Urban-Rhythmus auf rockiger Dance-Mucke in "I Give Up I Love You". Einem flächigen Intro folgt hier in tausendfach gehörter Machart großes Drum Machine-Tischtennis. Es mündet in ein unsauber produziertes Disco-Geschepper. So gewinnt nicht nur dieser Song übertrieben an Dramatik, während er an Heraushörbarkeit einzelner Zutaten verliert.

In stets gleich bleibender Stimmlage hangelt sich der Ire von einem schwachen Stück zum nächsten noch schwächeren. Austauschbar bis zum Gehtnichtmehr. Nichts, woran man sich festhalten kann, lässt uns der 51-Jährige zuteil werden, weder eine besonders einprägsame Harmonie noch einen Hauch Eleganz, Wildheit oder Schönheit.

Die Summe der Nummern entgleitet wie ein Paket mit Seifen, deren Inhalt beim Transport nass wurde: Ob Folktronic oder Tronic mit Folk, Dance-Folkrock-Synthies mit ein bisschen Pop-Punk-Gezuckel ("Yeah Yeah Yeah") oder einfach Teen-Pop für 11-Jährige auf einem Dancefloor-Beat ("Perfect In My Eyes") und nachzuschlagen bei Worlds Apart - es läuft immer aufs Gleiche raus. Auf hysterisch übertriebene Steigerungen Richtung Refrain, und dann Pseudo-Besonnenheit Richtung Lied-Ende. Hier sind Teilchen keine Moleküle, sondern Kalküle: Jeder Bestandteil in jedem Takt in jedem Track klingt nach Kalkül. Der einstige Reamonn-Gründer und Jam & Spoon-Aushilfssänger sagt, "manchmal hat es mir Spaß gemacht, manchmal auch nicht."

Stumpfsinniges Mastering, Größenwahn ("I'm a motherfucking Saint!"), seltsame Presslufthammer-Beats (zB in "Free Like The Ocean"), Mitsing-Handclap mit etwas Französisch mit estnischem Akzent ("Yeah Yeah Yeah"), Mandolinen-Gezupfe ("Carry Me"), Stadion-Sound (zB in "Make It Rain") und Textbausteine in Dauerschleife tun ihr übriges. Willkommen im Steriloland statt im Stereoland.

Diese schlüpfrige The Killers-Kopie für Arme mit George Ezra--Einsprengseln für Michael Patrick Kelly-Fans kommt schlussendlich nicht über die Runden, ohne einige butterweich gegrapschte Metaphern zu verfrühstücken: "Tears rain down like a river", "the ground starts shaking" und "My heart is beating like a drum". Der Wahl-Hesse serviert mal wieder Einheitsbrei für Leute, die Facebook-Gruppen eine soziale Sache finden und glauben, dass Jauch bei "Wer wird Millionär?" selber alle Antworten weiß.

Trackliste

Standard Tracks

  1. 1. Halo
  2. 2. Free Like The Ocean
  3. 3. Perfect In My Eyes
  4. 4. Somewhere Close To Heaven
  5. 5. New Day Tomorrow
  6. 6. I Give Up I Love You
  7. 7. Yeah Yeah Yeah
  8. 8. I Don't Wanna Go
  9. 9. Make It Rain
  10. 10. To Love
  11. 11. Loving You Hurts
  12. 12. Only Love
  13. 13. Together
  14. 14. Carry Me

Bonus Tracks

  1. 1. Dizzy (Acoustic)
  2. 2. Perfect In My Eyes (Naked + Acoustic)
  3. 3. Halo (Classic)
  4. 4. I Give Up I Love You (Acoustic)
  5. 5. Thank You (Acoustic)

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LAUT.DE-PORTRÄT Rea Garvey

"Ich suche ständig die Herausforderung", sagt Rea Garvey. Der mit der Gruppe Reamonn bekannt gewordene Sänger ist kein Mensch, der die Füße hochlegt.

8 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 3 Monaten

    "Progressiver, politisch linksorientierte Menschen sähen dagegen die Erziehung, prägende Lebenserfahrungen und soziales Umfeld als Hauptursachen."

    Vielleicht ist es das Problem, dass überhaupt "Erziehung" stattfindet. Könnte zumindest das Erstarken der AfD erklären.

    Soweit ich mich erinnern kann, waren viele Erzieher*innen, die mir so im Leben begegnet sind, mit ziemlichen Bauern vom Hinter(n)-Land verheiratet, die der Biologie ziemlich nahe standen. Kann mir vorstellen, dass das zu ziemlich vielen Konflikten zu Hause geführt hat.

    Kurz noch zum Wort "Hauptursachen":
    Wenn etwas zu 50:50 besteht, dann gibt es doch zwei Hauptursachen, oder?

  • Vor 3 Monaten

    Dieser Kommentar wurde vor 3 Monaten durch den Autor entfernt.

  • Vor 3 Monaten

    Warum ein Musiker mit einer wirklich guten Stimme so einen Schrott produziert ist mir ein Rätsel.