laut.de-Kritik

Dieses Album setzt neue Standards im Americana.

Review von

Robert Vincent ist ein Brite, der Americana macht. Für den durchschnittlichen Midwesterner ergibt das wohl so viel Sinn wie ein Brasilianer, der Klezmer spielt. Aber hey, wir sind ja offen im Geiste. Außerdem gibt es mit Danni Nicholls sogar noch eine aktuelle erfolgreiche Insulanerin in dem Genre, Laura Marling ist stilistisch ja auch nicht ganz weit weg. Vincent legt mit dem herrlich düster benannten "In This Town, You're Owned" seinen dritten Langspieler vor.

Dafür arbeitet er zum ersten Mal mit einem bekannten Produzenten zusammen: Ethan Johns. Jener hat schon mit Paul McCartney, Ray LaMontagne und Ryan Adams zusammengearbeitet, ist also weder komplett genrefremd, noch ausschließlich auf Americana gebucht. Schon beim Opener "This Town" wird klar, dass Ethans einen verdammt guten Job gemacht hat. Vincents Stimme passt sich perfekt in die sparsam, aber nicht zurückhaltend auftretende Band ein. Bereits an dieser frühen Stelle stößt positiv auf, wie klar jedes Instrument zum einen handwerklich kristallklar zu hören und zuzuordnen ist, aber auch, welches Live-Feeling sich einstellt. Der Opener handelt von Heimatstädten. Im Falle Vincents geht es um Liverpool. Es geht schwermütig zu auf "In This Town, You're Owned". Gerade als man diese ganzen ersten Eindrücke verarbeiten will und "This Town" sich dem Ende nähert, setzt der erste Chor des Albums ein und ich wünschte, dieses Gefühl könnte ich noch einmal zum ersten Mal erleben. Ich habe mindestens seit dem Debüt der Fleet Foxes kein so schönes und organisches mehrstimmiges Arrangement erlebt.

"My Neighbour's Ghost" startet schwungvoller. Zunächst vermisst man die Wärme von "This Town". Das hält ungefähr 15 Sekunden an, dann wippt man mit dem Fuß und singt beim zweiten Refrain aus vollem Halse mit. Den Song würde ein sich nicht beim Publikum einschleimender Buddy Holly 2020 machen. Erstaunlich, wie souverän Vincent und seine Band ihren Americana um verschiedene Stile anreichern. Jeder Song zaubert auf seine Art und Weise völlig neue Stärken hervor und zeigt andere Einflüsse auf. Americana im allerbesten Sinne nicht als Label oder als Teil eines Markenbrandings, sondern als musikalische Empfindung, die viele Facetten haben kann. So wie der Süden der Staaten ein Schmelztiegel ist, entwickelt sich aus diesem eine neue, starke Identität.

Spätestens mit "The Kids Don't Dig God Anymore" zeigt Vincent, wie wenig Interesse er hat, in einer musikalischen oder thematischen Komfortzone zu versauern. Der Song versöhnt Soul mit Country, eine der anspruchsvollsten Kombinationen überhaupt. Dazu singt der britische Barde über Spiritualität im Alltag und die Rolle des Glaubens für unser Leben ("kids dont't dig god anymore/ and maybe they're right"). So kann man seine eigene US-Zielgruppe verscheuchen. Schlagzeug, Violine, Hammond-Orgel und Piano öffnen den Song Schale für Schale und legen die Crooner-Qualitäten des Sängers offen.

"Conundrum", der härteste Song des Albums und der einzige, auf dem der Beat das Lied trägt, schielt Richtung Country- und Soft-Rock. En passant revitalisiert das Stück das ganze Subgenre. Für Momente packt Vincent gegen Ende die E-Gitarre aus und gibt einem damit den Glauben an eine Wiedergeburt der Allman Brothers zurück. Nach vielen Hördurchgängen stößt man immer wieder verblüfft auf winzige Details, die das eh schon starke Songwriting und glasklare Arrangement auf ein noch höheres Level heben So zum Beispiel das Marsch-Schlagzeug in "At The End Of A War" oder die winzige, helle Gitarrenfigur in "If You Were You". "In This Town, You're Owned" mausert sich so zum Musterbeispiel dafür, dass gute Musiker ein Album nach zu viel Bearbeitung totdenken, Ausnahmemusiker ihr Produkt aber immer weiter verbessern.

Dieses Album klingt zutiefst nachdenklich udn bietet keine einfachen Lösungen. Ein Langspieler voller Zweifel, der im Abstrakten bleibt und dabei an Ben Howard erinnert. Ähnlich wie die Stücke von Spielarten des Americana zehren, handeln sie von Aspekten der Schwermut, ganz ohne Kitsch. "I Was Hurt Today But I'm Alright Now" durchzieht Verlustängste, "The End Of The War" handelt von der Apathie der Stunde Null, nicht etwa von einem Silberstreif am Horizont. Zwar will "Cuckoo" Vergebung geben, vergisst aber keineswegs die Anstrengung, die diese erfordert. "If You Were You" lotet die starren Grenzen unseres Selbst aus ("your personality dictates/that you must rant and you must rage"). Die Texte bleiben zwar im Ungefähren, bauen allerdings zuverlässig emotionale Bindung zum Hörer auf und hören sich schlicht gut und catchy an. Für das eher naive Video zu "Conundrum" samt demonstrativer Plastikflasche am Strand kann das Album ebenso wenig wie für hilflose Interview-Antworten des Sängers zu sozialer Verantwortung. Er tat gut daran, seine Texte greifbar aber doch universell zu lassen.

In "Husk Of A Soul" tritt gerade am Schluss wieder die Glanzleistung Ethans hervor. Er benutzt kaum Overdubs und kreiert in diesem Song eine Country-Jam-Atmosphäre, die ich so selten gehört habe. Das Gitarrensolo gereicht in seinem Dialog mit der Akustikgitarre Neil Young zu Ehren. Ein weiterer Aspekt dieser hervorragenden Platte ist die bemerkenswerte Stimme von Vincent, die sich zunächst gar nicht so distinktiv anhört. Eher wie ein weniger versoffener John Mellencamp. Sie verfügt aber über eine bemerkenswerte Fähigkeit, die traurige Grundstimmung nicht nur zu transportieren, sondern ihr Nuancen mitzugeben. Sie hält auch zu jeder Zeit mit den oft eingesetzten Chören mit und führt diese sogar. In der Mitte von "Husk Of A Soul" sticht einem der Sänger bei der Zeile "years of abuse" schmerzhafter ins emotionale Epizentrum als ein Interview mit Courtney Love.

In dieser Ansammlung von Volltreffern ist es kaum möglich, ein Highlight auszumachen. Würde man vor die Wahl gestellt, wäre es wohl "I Was Hurt Today But I'm Alright Now", samt Hammond-Orgel wie Cave zu besten Zeiten. Eine Elegie auf den eigenen Stolz, ein Bettellied, dessen Mantra lange hängen bleibt: "please don't leave me/ when I'm not around". Kaum überraschend, dass "At The End Of A War" mit seinen neun Minuten keine Sekunde zu lange geriet. Das ist die Art von Song, die Johnny Cash geliebt hätte. Der Bass bei 7:22 öffnet eine neue Welt, daraus ergibt sich dann eine gezupfte Banjo-Mandoline-Gitarren-Konversation. Schöner als mit dem Gospel "Cuckoo" wurde ich selten verabschiedet.

"In This Town, You're Owned" ist mehr, als es sein will. Aus allen Poren trieft das Bemühen, 'nur' ein richtig gutes Americana-Album hinzulegen. Aber manchmal reicht es eben doch, wenn jeder einzelne Song so kohärent, so voller Herzblut ausgestaltet wird, um mehr als die Summe seiner Teile zu schaffen. Dieses Gesamtkunstwerk setzt neue Genre-Standards und stellt eine enorm hohe Messlatte für andere Americana-Veröffentlichungen des Jahres 2020 dar. Ein Prachtstück.

Trackliste

  1. 1. This Town
  2. 2. My Neighbour's Ghost
  3. 3. The Kids Don't Dig God Anymore
  4. 4. The Ending
  5. 5. Conundrum
  6. 6. Husk Of A Soul
  7. 7. I Was Hurt Today But I'm Alright Now
  8. 8. The End Of The War
  9. 9. If You Were You
  10. 10. Cuckoo

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