laut.de-Kritik

Ein irisch-deutsches, Genre sprengendes Elektro-Manifest.

Review von

Wenn die ewige Irin ein neues Album ankündigt, weiß man nie, was einen genau erwartet. Genregrenzen kennt sie nicht, jeder Output klingt anders. Als im Vorfeld klar wurde, dass der deutsche DJ Koze ihr Produzent sein würde, war zumindest davon auszugehen, dass erneut keine Langeweile aufkommt.

Die Aufnahmen dazu sind etwas eigentümlicher, denn "Hit Parade" entsteht nicht zusammen im Studio, sondern Róisín Murphy schreibt und singt in London, Koze werkelt in Hamburg. Entsprechend braucht es sechs Jahre, bis die vorliegenden 13 Songs heranreifen. Róisín sagt selbst, dass die räumliche Trennung einen intimeren Zugang zum Songwriting ermöglicht und sie in die Lage versetzt, diesem Album ihre Geheimnisse zu erzählen, während Koze völlige Freiheit hat und nicht durch ihre Anwesenheit abgelenkt ist.

Das spürt man "Hit Parade" in jeder Faser, ein buntes Manifest voller Ideen und Unvorhersehbarkeit. Róisín mimt die hypnotisierende Souffleuse, die mühelos ihr versatiles Organ beinahe nach jeder Zeile verändert, passend zum musikalischen Rahmen, den ihr der Deutsche serviert. Der kontemplative Industrial Ambient "What Not To Do" führt behutsam die Parade an mit hallenden Klackgeräuschen, samtigen Bässen und einer verschrobenen Leadsynth, während Stimmfetzen unregelmäßig hineinfliegen.

Danach schaut die Hörerschaft in ein farbenfrohes Kaleidoskop voller Überraschungen. Das niedlich-verschrobene "The Universe" versprüht südländischen Singer/Songwriter-Flair dank fluffiger Instrumentierung. Murphy gönnt sich ein bisschen Spaß mit witzigen Ansagen und hoch gepitchter Stimme. Zum Song erklärt sie: "Es gibt keinen erkennbaren Sinn darin. Die Geschichte, die immer wieder erzählt wird, besteht aus mehreren Ebenen; Ebenen, die wir nicht sehen oder verstehen. Die Erfahrung, am Leben zu sein, besteht darin, immer wieder daran erinnert zu werden, wie völlig ahnungslos wir sind, was um uns herum wirklich vor sich geht". Das gilt generell für das Album.

Im Anschluss daran ertönt das Dub-Geflecht "Hurtz So Bad", bei dem sich Koze völlig losgelöst austobt und seine Einfälle zu einem interessanten Klaggebilde verwebt. "The House" wiederum nimmt einen Chic-artigen Funk-Pop als Basis. Auf dem ersten Blick hüpft es eventuell etwas hemdsärmelig, da der richtige Beat oder Bass fehlt, fasziniert jedoch mit seiner Struktur.

Apropos Struktur: "Hit Parade" beherbergt Stücke, die zwischen fünf und sieben Minuten andauern, sich Zeit nehmen, Bestandteile aufnehmen, um sie entweder weiterzuspinnen oder auch wieder fallen zu lassen. Drei davon platziert sie direkt hintereinander. Der sich langsam steigernde Spacepop "Free Will" geht mit zunehmender Spieldauer in tropische Rhythmen mit Conga über, pulsiert als Prog-Elektro mit widerspenstigen Haken.

Der psychedelische Tech-Rave "You Knew" triumphiert mit iterierenden, knisternden Bässen, während ein zwischendurch geloopter und modulierter Gesang gekonnt ergänzt. Der kühle Tech-House "Can't Replicate" wabert konsistent und konsequent, Róisín schwebt andächtig darüber. Im späteren Verlauf steigen blubbernd-kratzige Synths empor, der Bass setzt ein und man merkt, dass Koze sein Handwerk virtuos ins Szene setzt. Ein absoluter Banger.

Der gebürtiger Flensburger wühlt jedoch nicht nur in seinem eigenen Kopf, sondern auch in der Plattenkiste und samplet an zwei Stellen. Zum einen "Window Shopping" von Sharon Jones & The Dap-Kings im nostalgischen "Fader", bei dem er eine frische Brise durch echte Instrumente wie Gitarre und Schlagzeug beimischt. Zum anderen "Together" von Mike James Kirkland im monumentalen "CooCool". Zunächst beginnend als Funky Deep House, kommen im Refrain Bläser, eine erhellende Stimmung und E-Gitarre dazu. Danach nimmt ein leicht melancholischer Vibe Überhand, diverse Melodien schlängeln sich ineinander, eine elegante Murphy zeigt ihr Können am Mikrofon. Ein zu dieser Jahreszeit passender Song mit einer wunderbaren Message: "Es ist ein albernes, romantisches kleines Liebesgedicht. Dieses Ding ist weit jenseits jeder Art von Parodie. Alles in diesem Lied ist echt und verspielt. Können wir uns verlieben und unseren Sinn für Humor bewahren? 'Erkenne dein inneres Kind!' Zeitlose, alterslose, unausweichliche Liebe."

Róisín hat aber noch viel mehr im Köcher. Ähnlich wie beim Moloko-Debüt "Do You Like My Tight Sweater?" schleichen sich bizarr anmutende Skits zwischen die Songs: Ein Kind spricht energisch wie verstörend in "Spacetime", und in "Crazy Ants Reprise" spricht die Irin im 'Valley Girl'-Akzent über Ameisen und Spülmaschinen.

In den letzten beiden Songs macht sie auch vor anderen Genres keinen Halt. "Two Ways" kredenzt einen formidablen Trap-Beat mit flirrenden Hi-Hats sowie wuchtigen 808s, gepaart mit Koze-typischen Zutaten, bei denen sogar eine Querflöte kurz vorbeischaut. Der Elektro-infizierte Neo-R'n'B "Eureka" beschließt dann dieses höchst experimentelle Album mit assoziativem Schönklang und frei in der Form. Gen Ende fährt noch ein an eine Dampflock erinnernder Beat hinein, nur um nonchalant an einem vorbei zu rauschen.

"Hit Parade" ist im Grunde das musikalische Äquivalent zur Parade in Satoshi Kons Meisterwerk "Paprika". Überbordend, kunterbunt, prächtig, herausfordernd und doch intim. Man weiß gar nicht, wohin man zuerst hinhören soll und dazu noch eine entfesselnd aufspielende Róisín Murphy. Musik, die weit entfernt vom Mainstream existiert und viel Inspiration birgt. Hört es euch unbedingt an und lasst euch bitte nicht vom grotesken Cover abschrecken!

Trackliste

  1. 1. What Not To Do
  2. 2. CooCool
  3. 3. The Universe
  4. 4. Hurtz So Bad
  5. 5. The House
  6. 6. Spacetime
  7. 7. Fader
  8. 8. Free Will
  9. 9. You Knew
  10. 10. Can't Replicate
  11. 11. Crazy Ants Reprise
  12. 12. Two Ways
  13. 13. Eureka

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1 Kommentar mit 4 Antworten

  • Vor 7 Monaten

    DJ Koze ist gleichzeitig ein naheliegender Partner und eine geniale Idee ♥

    • Vor 7 Monaten

      "Power" von Fischmob ist btw immer noch groß. Hate me now, Haschisch Opis!

    • Vor 7 Monaten

      Muss ich ma wieder hören.

    • Vor 7 Monaten

      Koze von den mir bekannten Künstler*innen, die diese "Ich hab in den 90ern ma HipHop gemacht, würdeste mir aber bei meiner Diskografie der letzten 20 Jahre kaum anhören, wenn du es nicht schon vorher gewusst hast"-Nummer aufführen, sicherlich der Wandelbarste und Spannendste. Ähnlich raffiniert - wenn auch in keinem Moment so verschnörkelt, neugierig, abwegig und detailverliebt wie Koze - hat es sonst vielleicht maximal Tobi Tobsen (Ex-5 Sterne Deluxe/Der Tobi & das Bo) mit Moonbootica hingekriegt.

      Finde ebenfalls, dass die anhaltende Projekt-Kollabo mit Murphy beiden wieder gleichermaßen gut zu Gesicht steht, auch wenn die zwei mutmaßlich bereits während ihrer ersten Begegnung schon alle nötigen Bestandteile zum musikalischen beständigen "Match made in heaven" im Handgepäck dabei hatten.

    • Vor 7 Monaten

      Stimme 100% zu, souli. Und danke für sie Erinnerung an Moonbootica! Muss mal wieder ausschecken, was die zuletzt so gemacht hatten...

      DJ Koze hatte ich seit dem hier lieb. Gunter Gabriel war doch zu was gut;:
      https://youtu.be/3vIlM5PaYHE?si=xmUxKcdphC…