laut.de-Kritik
Sakrale Düsternis, die in die Tiefe reißt.
Review von Toni HennigIm vergangenen Jahr kamen viele Techno-Jünger mit der gehauchten Stimme von Rosa Anschütz erstmals in Berührung, als der pumpende Kobosil 44 Rush Mix ihres Tracks "Rigid" die Dancefloors eroberte. Darüber hinaus verbucht der Remix auf YouTube mittlerweile über 1,7 Millionen Klicks. Dabei steht die Künstlerin, Produzentin und Sängerin, die zwischen ihrem Studio in Berlin und ihrem Wohn- und Studienort in Wien pendelt, eigentlich für einen ganz anderen, viel filigraneren Sound, der auf ihrem nun veröffentlichten Debüt "Votive" zu voller Blüte reift.
Ihr verhalltes, zwischen Gesang und Spoken Words pendelndes Organ bettet sie Rosa in Soundstrukturen, die sie mit Gitarre, Bass, Drum Machine und modularem Synthesizer erzeugt. Letzterer stellt ein Heiligtum für sie dar, da er eine bestimmte "Stimmung" benötige, sagte sie gegenüber Radio FM4. Dadurch schafft sie ein sakrales Ambiente, das an Nico denken lässt.
An "Votive" arbeitete Rosa Anschütz gemeinsam mit dem Berliner Produzenten Jan Wagner drei lange Jahre. Am Ende bleibt eine Sammlung von neun unterschiedlichen Votiven, die im Religiösen als Opfergabe bezeichnet werden. Dies stellt die Künstlerin, Produzentin und Sängerin, die transmediale Kunst studiert, nicht nur in akustischer Form, sondern auch als Keramik dar, da jedes Lied seine eigene Skulptur besitzt.
Im eröffnenden "Out Of True" schweben Twin Peaks-ähnliche Gitarrentöne und der Gesang nebelverhangen durch den Raum. Später kommen sphärische Synthies hinzu, die eine beklemmende Stimmung erzeugen, die sich nach und nach verdichtet. Dadurch entsteht ein kathedralenhaftes Soundgebilde, das sich im weiteren Verlauf in diverse Richtungen öffnet.
"Soft Resource" hat dann dank verhaltener Techno-Beats und postindustrieller Percussions etwas überaus Körperliches, während ätherische Chöre im Hintergrund die sakrale Grundstimmung aufrecht erhalten. Dazu wiederholt Rosa mantraartig ein paar Gedankenfetzen, die genug Raum für eigene Emotionen lassen. Ihre Lyrics schreibt sie oftmals unterwegs aus dem Bauch heraus.
Danach wehen in "In Spate" zu knisternden Beats und flehenden Spoken Words schwere, drückende Post-Punk-Akkorde durch den Track, die atmosphärisch an Joy Division erinnern. Ab der Mitte gleitet das Stück durch die hämmernden Percussions mehr zum Rhythmischen hin, was eine gewisse Dringlichkeit vermittelt. Anschließend verliert man sich zu dichten Samples und Chören sowie zaghaften Electro-Pop-Beats erst mal im "Rausch Der Sinne". In "Methane" tun sich dann zu verrauschten Klangstrukturen und nachdenklichen Gitarrenakzenten surreale Bilder vor dem inneren Auge auf, während modulare Sounds die Dramatik nach und nach steigern.
"Opacity" offenbart schließlich mit rhythmischen Beats und kühlen New Wave-Synthies fast schon Hitqualitäten, zumal Rosa von ihrer Gesangsstimme durchgängig Gebrauch macht. Eine gewisse Beklommenheit schwingt dennoch mit, wenn ihr Organ hier und da in zerbrechliche Soap&Skin-Sphären gleitet.
"Morph Me" knipst, wenn perkussive 80er-Jahre-Darkwave-Klänge und dämmrige Spoken Words den Track durchziehen, endgültig das Licht aus. "Zitterndes Wasser" gerät mit dräuenden Synthies und langsam vor sich hin rotierenden Beats und Percussions zum fast rein instrumentalen Trauermarsch. Am Ende hinterlässt die Scheibe nur noch ein Gefühl von Leere, wenn der Gesang in "Adjustment" zu harmoniumartigen Sounds, langsam voranschreitendem Schlagwerk, das nach und nach immer energischer wird, und maschinellem Geschleife so trost- und aussichtlos klingt wie Nico zu "The Marble Index"-Zeiten.
Auf "Votive" verbinden sich unterschiedlichste Stile und Klänge zu einem zusammengehörenden Ganzen, das unaufhaltsam in die Tiefe reißt, wobei jeder einzelne Track auch genauso gut für sich steht. Liebhaber anspruchsvoller Düsterklänge sollten sich diese fantastische Platte auf keinen Fall entgehen lassen.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Das klingt interessant!
Irgendwer hatte das kürzlich empfohlen bzw. verlinkt. Tönt nett, liegt auf der bandcamp Wunschliste
Ja, toni selber war das Bin aber auch erst jetzt zum Reinhören gekommen. Gefällt mir gut, ohne dass ich jetzt völlig hin und weg wäre. Aber kann ja noch kommen, werds mir jedenfalls wohl holen.
Danke für die Anregung!
Weiß nicht, obs 5 Punkte sind und damit ein Meisterwerk ist. Aber es gefällt.
Im letzten Jahr war dies doch tatsächlich das Album, dem ich am öftesten gelauscht habe, obwohl es aus 2020 stammt. Es ist mir geradezu ans Herz gewachsen und wäre ganz sicher unter meinen 100 Alben für die einsame Insel. ♥