laut.de-Kritik
Träumen elektrische Schafe von Androidinnen?
Review von Yannik GölzSOPHIE zeigt inzwischen ihr Gesicht. Ein immenser Bruch, denn die gefeierte Schlüsselfigur der Londoner PC Music-Schule machte bislang vor allem mit einer gewissen Unnahbarkeit von sich reden. Sie tauchte nicht selbst auf der Bühne auf, schickte bei Auftritten lieber Freunde zur Performance vor und veröffentlichte mit "PRODUCT" 2015 ein Debüt, das ästhetisch vor allem von maschineller Menschlosigkeit lebte. Nun steht ein neues Projekt ins Haus und bereits der Vorbote "It's Okay To Cry" bricht alle Regeln, die ihre bisherige Präsentation vorzugeben schien. SOPHIE singt, keine Vocal-Filter, keine Effekte, in Fleisch und Blut vor der Kamera, sichtbar und zerbrechlich.
Die Aura des Geheimnisvollen nimmt durch allerdings nicht ab. Im Gegenteil: Gerade im Verhältnis zu den anderen Singles, "Faceshopping" und "Ponyboy", zeigt der Track das einzigartige Uncanney Valley zwischen Mensch, Maschine und Kunst, das SOPHIE auf ihrem neuen Album erkundet. "Oil Of Every Pearl's Un-Insides" ist ein fragmentierter Behemoth der postmodernen Popmusik, der Genres und Klang zu einer einzigartigen und vielschichtigen Collage über das Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Synthetik, Realität und Performance erfahrbar macht.
Schlüsselelement sind dabei die rabiaten Taktwechsel in der Gangart zwischen Genre und Stil, die sich teilweise völlig unmittelbar über die Tracklist spannen. "It's Okay To Cry" eröffnet das Album schwermütig, eine Power-Ballade, die den Kitsch und den Pathos von queeren 80er-Disco-Nummern mit intrigantem Sound-Design und psychedelischer Synthesizer-Arbeit ins Diesseits befördert. Der Klang ist zurückhaltend, verletzlich, die dünnen, aber charakterstarken Vocals stehen in all ihrer Zerbrechlichkeit im Scheinwerferlicht.
"I hope you don't take this the wrong way / But I think your inside is your best side/", singt sie dann beispielsweise, stets bedacht, ein Gefühl des Wohlwollens, aber auch der Unsicherheit aufrecht zu erhalten. Nie verlieren die Lyrics das Gefühl einer Momentaufnahme, als würden sie die fragende, abtastende Natur ihrer Protagonistin in verschiedenen emotionalen Zuständen einfangen. Doch nicht nur der Ton ändert sich rabiat, sondern auch die Intensität.
So kehrt der Vibe von "It's Okay To Cry" im Mittelteil der Platte auf der ähnlich verwundbaren Ballade "Is It Cold In The Water?" zurück, steigert aber mit unruhigen, sich immer weiter aufpeitschenden Synth-Arpeggios die Stimmung. Es entsteht ein spannender Kontrast zwischen gefassten, ernsten Vocals und einer instrumentalen Panikattacke. "I'm falling/ Depths endless/ Worlds turn to smoke / One hundred years flicker / I kiss the snow", illustrieren die Lyrics der unter Mozart's Sister geführten Gastsängerin die Situation.
Es geht um überspielte Angst, es geht um Minderwertigkeit. In harten Worten wird es allerdings kaum ausgedrückt, viel mehr ist es die physische Körperlichkeit der Musik, die es schafft, Narrative in Textur und Klang zu weben. Die vielleicht direkteste, einladendste Nummer des Projektes in dieser Hinsicht dürfte "Faceshopping" sein, einer von zwei Tracks, die musikalisch klar in der Tradition des Vorgänger-Albums "PRODUCT" stehen.
Gemeinsam mit "Pony Boy" grätschen diese nach dem sentimentalen, sanften Einstieg mit brachialen Synth-Bässen und aggressivem Londoner Techno ein, wie ihn auf dem PC Music-Camp schon ein Künstler a là EASYFUN erkundet hat. Mit "Artificial bloom/ Hydroponic skin / Chemical releas e/ Synthesise the real / Plastic surgery / Social dialect / Positive result s/ Documents of life" oder "I'm real when I shop my face/" gibt es die bislang klarsten Schläge Lyrics auf einem SOPHIE-Projekt.
Trotzdem bleibt die Ambiguität der Lesarten auch hier spannend. Es könnte gleichermaßen als Affirmation queerer Selbstbestimmung verstanden werden, die sich in der Gender-Expression von SOPHIE zeigt. Es könnte auch den kapitalistischen Warenwert des Körpers zum Ziel machen oder man landet in gänzlich transhumanistischen Fahrwassern die Körperlichkeit der Maschine.
Wie auch immer diese Songs sich auffassen lassen, ist es doch die Musik selbst, die ein diverses Bild der Situation zeichnet. Denn mit verletzlicher Melancholie und entmenschlichten Bangern ist das Spektrum von "Oil Of Every Pearl's Un-Insides" bei Weitem nicht abgedeckt. "Immaterial" funktioniert als eine Persiflage auf Madonna-eskem Pop, getragen von Synth-Funk der Neunzigern, schweren Bässen und vielen Lagen Autotune. Ein Zynismus, der auf der Platte immer wieder latent angedeutet, aber nur hier wirklich greifbar wird.
"Pretending" und "Not Okay" sind reine Ambient-Nummern, die die Körperlichkeit der Platte auf die Spitze treiben und abseits von Melodie und Rhyhtmus eine klangliche Erfahrung der Motive finden. Sie schaffen eine nahezu cineastische Qualität darin, im Album Räume zu öffnen und diese mit außerirdischen Texturen und Klängen zu füllen, die bei genauerem Blick aus konvetionellsten Pop-Tropen gesamplet wurden.
"Not Okay" webt fast in Future Funk- oder Vaporwave-Manier manipulierte Disco- und Funk-Fragmente in ekstatische Elektro-Soundkulissen ein. Es entstehen Motive, wie man sie auch bei Lorn oder C.C.C.C. finden könnte, würden sie nicht immer zumindest mit einem Finger zurück in den Mainstream deuten. "Pretending" kratzt mit entstellten, dekonstruierten Popklängen an der Grenze der Ungenießbarkeit.
Es ist der Schlusstrack "Whole New World / Pretend World", der den mannigfaltigen Stimmungen und Ideen der Platte einen kohärenten Ausklang verleiht. In der sprachlichen Spielerei klingt "Whole New World" zum Beispiel plötzlich ein wenig wie "Ponyworld" - und lässt den Umkehrschluss zu, dass beim zweiten Track "Ponyboy" eigentlich von einem "Whole New Boy" die Rede gewesen sein könnte. Ein weiterer Fingerzeig auf die Ambiguität der Themen Gender und Technologie, wie sie ein Stanislav Lem oder ein "Ex Machina" nicht beißender hätte einfangen können.
Über neun Minuten langer experimenteller, nichtsdestotrotz eingängiger Elektro-Sound vereint hier die mal menschlichen, mal robotischen Stimmen, die unerkennbaren Texturen und die surreale, psychedelische Stimmung von "Oil Of Every Pearl's Uninside". Ein wirkliches Fazit gibt es nicht, SOPHIE lässt den Hörer viel mehr mit brennenden Fragen über die Realität und Manipulierbarkeit von Identität zurück. Was ist eine "Pretend World"? Was macht den Menschen aus – in Relation zu sich selbst, in Relation zur immer dominanter werdenden Maschine? Welche Rolle spielen Körper, welche Gender, welche die Gesellschaft?
Und statt dem Versuch, in einem Pamphlet auch nur eine dieser Fragen beantworten zu wollen, gibt diese unglaubliche Platte das zehrende, unermüdliche Gefühl in einer intensiven, körperlichen Erfahrung wieder, diesen Fragen Tag für Tag aufs Neue ausgeliefert zu sein.
1 Kommentar
Wow, eine tolle Kritik zu diesem großartigen Album . Unbedingt das neue Remix Album von SOPHIE auschecken!