21. September 2016

"Wir reißen die Bibliothek auf"

Interview geführt von

Schandmaul werden volljährig. Nach 18 Jahren Showbiz sind sie nicht länger eine Szenegröße, sondern eine der kommerziell erfolgreichsten nationalen Bands.

Kein Wunder, dass mittlerweile sogar internationale Stars wie Tarja Turunen eine Kollaborationsanfrage annehmen. Über die Stärken und Schwächen der Band und ihre ureigene Philosophie sprechen wir mit Schandmaul-Sänger Thomas Lindner.

18 Jahre Schandmaul: Wenn du den Beginn mit der Gegenwart vergleichst, worin siehst du die künstlerische Entwicklung der Band?

Ich sags mal so: Am Anfang rotzt man alles raus. Jeder versucht permanent alles zu geben – alle auf einmal. Im Laufe der Zeit lernt man, dass die Lieder zu einem sprechen. Man lernt einander Platz zu lassen. Wenn die Flötistin ein Solo spielt, dann spielt sie eben ein Solo. Da muss nicht gleichzeitig ein Gitarrensolo laufen. Wir sind heute besser in der Lage, unsere Energie zu kanalisieren und die Stärken zu bündeln.

Seht ihr euch als rein eskapistische Band?

Grundsätzlich sehen wir uns zuallererst als Unterhaltungskapelle. Wir wollen den Leuten mit unserer CD eine Auszeit bieten, die sie auf der Couch genießen können. Oder auch für die Dauer des Konzerts. Aber durchaus klingen immer wieder Themen durch, die uns selbst im Hier und Jetzt beschäftigen. Die lassen wir dann auch raus.

Die neue Platte trägt den Titel "Leuchtfeuer". Bewusstes Symbol des Lichts inmitten finsterer Zeiten?

Erstmal ist das schon ein starkes Bild. Da leuchtet was, da muss ich hin. Das hilft mir hier raus. Und wir leuchten auch gern und helfen raus. Auf der anderen Seite ist "Leuchtfeuer" auch Ausdruck unseres maritimen Verhältnisses. Wir lieben das Meer und die große Weite. Da gehört der Leuchtturm einfach dazu, damit man immer wieder zurück findet.

Tarja Turunen als Edeljoker auf "Zu Zweit Allein" ist unter Showbiz-Gesichtspunkten euer größter Coup bislang. Wie kam es dazu?

Das kam tatsächlich mehr oder weniger zufällig zustande. Wir hatten ein Meeting mit der Plattenfirma und diesen Song, der sich für ein Duett eignete. Also wen fragen wir da? Keine Ahnung! Christina Stürmer? Die Stefanie von Silbermond?

Um Gottes Willen!

Jedenfalls sagte er (der Mann vom Label; Anm. d. Red.): Moment mal, die Tarja bringt doch diesen Sommer auch ein Album heraus. Die ist auch gerade hier in Europa und nicht in – wo wohnt sie nochmal? - Argentinien, glaube ich. Da haben wir sie einfach mal gefragt, ob sie Bock hat. Tarja war sofort begeistert und hatte auch keine Angst, als wir sagten: Du, wir machen das auf Deutsch. Sie hat hier ja tatsächlich mal eine Zeit lang in Deutschland studiert und spricht auch halbwegs deutsch. Sie hat sich reingehängt ohne Ende. Ihre Stimme ist wunderschön.

Ihre Stimme ist großartig. Leider verfügt der Song nicht über eine packende Melodie und sticht auch nicht aus der Flut ähnlich gestrickter Reißbrett-Balladen heraus. Es gibt auf der Platte stärkere ruhige Stück, etwa "Zeit". Verschenkte Chance?

Ach, das ist doch einfach persönlicher Geschmack. Als wir das geschrieben haben und der Text da war, sind wir auf die Idee gekommen. Nun weiß ich nicht, wie alt du bist.

Ich bin 45.

Na, dann sind wir ja nah beieinander. Wenn man sich nach langer Zeit, inklusive der älteren Generation, so umschaut, muss man schon lange suchen, um ein Lied zu finden, das so viel Wahrheit hat. Nun kannst du sagen "Ok, gefällt mir nicht so." Aber ich finde es so wahr. Ich bekomme dabei Pipi in die Augen. Immer noch!

Es gibt auf jedem eurer Alben ein, zwei Lieder, die so intensiv klingen und von dir perfekt getextet sind, dass man sich mehr davon wünscht. "Assassine" oder "Die Rosen" etwa oder aktuell das berührende "Tjark Evers". Woher kommt die Verbindung von euch Südlichtern zu Shanties und Nordmann-Stories?

Wir haben tatsächlich letztes Jahr Urlaub an der Nordseeküste gemacht, ich war auch schon oft auf Baltrum. Ich kannte die Geschichte vorher nicht und war sofort elektrisiert. Danach habe ich recherchiert. Diese Geschichte ist einfach sowas von hochdramatisch. Sowas kann man sich nicht ausdenken. Das ist das Leben.

"Wir sind ja keine Playback-Band"

Ihr seid für mich neben Faun eine der widersprüchlichsten nationalen Bands. Nimm "Leuchtfeuer": Einerseits gibt es da filigrane Stücke à la "Sommernachtstraum", "Tjark Evers" oder "Zeit". Demgegenüber stehen aber auch Klischees en masse. Pseudoharte Gummimetal-Gitarren, immer schön handzahm und dudelfunktauglich. Oft auch Stino-Rock wie Haudegen oder Unheilig. Kannst du die Irritation verstehen?

(schelmisch) Man könnte jetzt auch sagen, wir haben für jeden was dabei.

Klar, aber dann müsste ich entgegnen: Wenn ihr euch so sehr an der Breitenwirksamkeit orientiert, verspielt ihr doch Identität und Einzigartigkeit.

(relaxt) Aber diese Einzigartigkeit ist doch genau DAS! Wir haben sechs Komponisten und mindestens vier Texter. Aus jeder Ecke kommt einer und wirft was in die Pfanne. Die anderen tun ihre Gewürze dazu und es wird ein Gericht daraus. Am Ende klingt immer alles nach Schandmaul. Natürlich gibt es da Nuancen. Das machen wir seit 18 Jahren. Dazu stehen wir.

Auch der Unterschied zwischen Live und Studio ist prägnant: Auf der Bühne habt ihr gelegentlich diese flohzerbissene Räudigkeit, während es auf Platte oft nach Kostümverleih klingt.

Das muss sich unterscheiden. Greifen wir doch den Eröffnungssong "Orleans" heraaus: Eben habe ich gesagt, die Lieder sprechen immer mehr zu uns. Das ist so ein Lied. Im Gegensatz zu "Tjark Evers" haben wir hier zuerst eine reine Rocknummer daraus gemacht. Das Lied schrie aber nach mehr. Herausgekommen ist ein Song mit Streichern und Blasorchester. Das haben 110 Instrumente gespielt. Das Lied wollte das.

Wenn wir es live umsetzen, können wir da ja keine Bänder laufen lassen. Wir sind ja keine Playback-Band. Deswegen wird es für den Liveauftritt umarrangiert. Dadurch klingt es dann entsprechend räudiger. Dass das dem einen oder anderen besser gefällt, da habe ich nichts gegen.

"Da gehe ich erstmal 600 Seiten durch"

Historische Themen und legendäre Persönlichkeiten ziehen sich als roter Faden durch euren Katalog. Echtes Faible?

Wir interessieren uns für die Geschichte. Und schau dir doch mal (leicht verächtlich) zeitgenössische deutschsprachige Bands an. Was haben die für Themen? Verliebt sein, nicht mehr verliebt sein, Trennung und irgendwann hört es dann auf. Dann wiederholt sich alles. Denen gehen die Themen aus. Wir können diese Themen zwar auch bedienen, aber wir können auch die Bibliothek aufreißen, uns 'ne schöne Sage suchen, diese recherchieren und dann als Gedicht vertonen.

Da du "Orleans" erwähnst: Ich halte dich für einen sehr guten Texter und Geschichtenerzähler. Manchmal hetzt man aber mit deinem oft atemlosen Gesang durch ein Meer von Worten. Aus der tollen Story wird dann eine Geschichtsvorlesung. Steht sich hier ein Sänger wie du, der nicht unbedingt die voluminöseste Stimme hat, nicht selbst im Weg?

Och, nehmen wir doch mal den "Schachermüller-Hiasl" über den berühmten Räuber Kneisel. Ich bin drei Bücher durchgegangen und habe mir extra Originalakten von 1902 vom Amtsgericht Augsburg schicken lassen. Da geht man dann erstmal 600 Seiten durch, und am Ende des Tages haste eine DIN-A4-Seite geschrieben, wo jedes Wort stimmen muss.

Ihr geht da regelrecht wissenschaftlich heran?

Ja, durchaus. Klar, ein paar Worte weniger gingen vielleicht. Man kann eventuell ein paar Kleinigkeiten entfernen. Aber ich muss eben auch 600 Seiten Information auf eine Seite packen. Ich habe den Anspruch an mich, dass man den Text nehmen, sich vor seine Klasse stellen und ein Referat darüber schreiben kann.

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