laut.de-Kritik

Future Pop über Mental Health.

Review von

Das gigantische, schmerzhafte, anstrengende und komplexe Thema Mental Health ist im Pop historisch ignoriert worden. Viel lieber ergibt sich das Genre der Fantasie der kreativen Selbstzerstörung. Der "Club der 27" ist mehr als ein Mythos, er ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die unhinterfragte Abkultung des unkaputtbaren Keith Richards mit ihrer eingeschriebenen Verherrlichung der drogenverseuchten Vergangenheit ist höchstgradig gefährlich. Erst über den Umweg des Hip Hop hat das Thema psychische Gesundheit Einzug in popkulturelle Diskurse gefunden. Nur leider über die tragischen Tode von Künstlern wie Lil Peep oder Mac Miller.

Inzwischen ist einiges passiert. Billie Eilish avancierte mit Texten über ihre inneren Dämonen zum größten Popstar unserer Zeit. Auch Stars der (inzwischen) älteren Garde wie Miley Cyrus oder Selena Gomez sprechen offen über Persönlichkeitsstörungen. Ein gigantischer Fortschritt, aber noch lange nicht groß genug. Vor allem in Deutschland findet psychische Gesundheit im Pop noch kaum statt. In der hervorragenden Kurz-Doku "Pop & Mental Health: Die neue Offenheit im Pop" von arte Tracks kommt kein*e deutsche*r Künstler*in vor.

Ich hätte eine Idee, wen man dazu fragen könnte: Sören Hochberg, bekannt als Search Yiu. Der hostet zusammen mit Mia Morgan einen Podcast mit dem fantastischen Titel "Mental Mall" und hat sein neues Album "SY" ganz dem Themenkomplex Mental Health gewidmet. Auf 13 Songs bewegt er sich dabei fluide zwischen Popstrukturen, Hip Hop-Beats und R'n'B-Einflüssen hin und her, singt von Freundschaften und Beziehungen, und das alles fundiert auf einem tiefen Blick in seine eigene geschundene Psyche.

Hochberg ist bipolar und Überlebender suizidaler Phasen. Von diesen intimsten Gedanken singt er mit einer bemerkenswerten, immer wieder schmerzhaften Offenheit. "SY" klafft teilweise wie eine offene Wunde, die Heilung vollzieht sich in winzigen Schritten. Am deutlichsten vielleicht in den Sprachnachrichten seiner Freund*innen im Track "Treat Yourself". Hier hinterlassen Podcast-Kollegin Mia Morgan, Internetphänomen El Hotzo, die Journalistin Miriam Davoudvandi oder Rapper Rockstah Nachrichten der Zugewandtheit und Unterstützung.

Ohne diese Unterstützung stolpert Search Yiu teilweise verpeilt durch seine Songs, nur um vor anderen förmlich davonzurennen. Mit Produzentenkumpel Luka Seifert aka Rip Swirl im Hintergrund wechselt er mühelos zwischen Genreanspielungen. Im gehetzten Opener reißt eine Gitarre Funk an, während der Beat in den Höhen verzerrt und Hochberg den Umgang der Welt mit seiner psychischen Erkrankung und deren Folgeerscheinungen beschreibt: "Es gibt nur einen Grund, warum du das sagst / und schon wieder hat kein Mensch danach gefragt."

Das darauffolgende "Verliebt" hingegen zerbirst beinahe vor Unsicherheit. "Ich bin verliebt / Habe nicht gewusst wie schön die andere Seite aussieht / In meinem Kopf herrscht Krieg / Ich bin nicht verliebt" illustriert seine Stimmungsschwankungen, je länger der Song läuft, desto mehr verliert sich Hochberg im Wort "verliebt". Beinahe geistesabwesend stammelt er: "Verliebt / verliebt / verliebt / … / verlobt / verliebt / …" Dazu entwickelt der Song einen speziellen Sog, die aufmunternden Claps des Intros weichen leicht bedrohlichen Drones, während die bpm mit ihnen steigen.

Hieran lassen sich allerdings auch die zwei größten Probleme des Albums ablesen. Zum einen charakterisiert die Produktion teilweise eine beinahe streberhafte Überforderung. Hochberg und Rip Swirl scheinen zweihundert Ideen pro Song zu haben, nur selten entfalten sich Stücke gemäß ihres Intros. Stattdessen nehmen sie teilweise arg abrupte Abzweigungen oder brechen beinahe vollständig mit der Struktur des gesamten Albums.

Daran scheitert das düstere, Trap-infizierte "Leer". An und für sich ein solider Track, doch seine Düsternis bricht ohne größere Not mit dem beschwingten Grundton der vier Songs davor. Von diesem Bruch in der ersten Albumhälfte erholt sich "SY" nicht mehr vollständig. Der lethargische After Party-Blues "Spaß" ist gut, versinkt allerdings etwas in der gedrückten Grundstimmung der zweiten Hälfte.

Auch lyrisch offenbart Search Yiu immer wieder ärgerliche Schwächen. Kaum eine Zeile bliebt nachhaltig im Gedächtnis hängen. Das ist paradox, sind die Texte doch beim ersten Hören immer wieder memorabel, in meinem Langzeitgedächtnis verlieren sie sich dennoch ständig. Woran das liegt? Eventuell an der bereits beschrieben Lethargie der Songs, die zum Abdriften einladen. Höchstens kurze Snippets lassen wirklich aufhorchen.

Außerdem, warum ist eigentlich "Bye Bye" nicht der musikalische Closer des Albums? Wäre doch eigentlich sehr passend gewesen, das Album mit einer kräftigen Absage an die "fear of missing out" zu beenden und sich lieber auf die eigene psychische Gesundheit zu konzentrieren. Dann meinetwegen noch "Treat Yourself" als quasi Hidden Track, der sanft in den Schlaf lullt. Stattdessen hängt noch "On And Off" hintendran. Das schmälert gleichzeitig den Gesamteindruck des Albums und versagt dem Song eine Stelle als kleines Albumhighlight mit luziden Qualitäten.

Trackliste

  1. 1. Denk
  2. 2. Verliebt
  3. 3. Nie Mehr (feat. Mia Morgan)
  4. 4. Weg Von Hier
  5. 5. Leer
  6. 6. Lange Her
  7. 7. Spaß
  8. 8. Werden Wie Du
  9. 9. Still
  10. 10. Freitag
  11. 11. Bye Bye
  12. 12. Treat Yourself
  13. 13. On And Off

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