laut.de-Kritik
Selige Nostalgie trifft auf politische Töne.
Review von Toni HennigSelig etablierten sich 1994 mit ihrem selbstbetitelten Debüt und der Single "Ohne Dich" als feste Deutschrock-Größe. 1999 erfolgte die Auflösung, nur um zehn Jahre später mit "Und Endlich Unendlich" erfolgreicher denn je zurückzukehren. Seitdem verließ zwar Keyboarder Malte Neumann die Hamburger, aber mittlerweile gehören die turbulenten Jahre der Vergangenheit an. Trotzdem kehrte die Formation für "Myriaden", das nun erscheint, zu ihren Wurzeln zurück, indem sie die Studios des Hamburger Produzenten Franz Plasa aufsuchte, wo auch das Debüt entstand. Trotzdem schlägt sie zunehmend experimentellere und politischere Töne an.
Auf selige Nostalgie muss man aber nicht verzichten, wie schon der Opener "Süßer Vogel" mit hippiesken 60s-Sounds beweist. Textlich sehnt sich Jan Plewka dabei nach der Unbeschwertheit der Jugend zurück, denn "der See ist jetzt ein Reservoir, der Strand ist schwarz und kaum noch da". In "Alles Ist So" solidarisieren sich Selig sogar mit der Fridays For Future-Bewegung, während man nachdenkliche, elektronisch aufgepeppte Deutsch-Pop-Töne im Midtempo hört. Das anschließende Titelstück bildet einen entspannten Rocker, wie er für die Band typisch ist. Dazu beklagt Plewka den Mangel an menschlicher Wärme in Zeiten von Social Media. Eine gelungene Anfangsphase.
Leider gelingt der Spagat aus Altbewährtem und neuen Klängen im weiteren Verlauf nicht immer. Schon das folgende "Spacetaxi" birgt mit an Stefan Raab angelehnten Funk-Tönen eine Menge Fremdschampotential. Der Tiefpunkt folgt mit "SMS K.O.", das wie ein Abklatsch von "Ohne Dich" für das digitale Zeitalter wirkt, nur mit mehr unerträglichem Selbstmitleid. "Angesicht Zu Angesicht" tischt zwar emotional ebenfalls ordentlich auf, aber durch die geisterhaften, angefolkten Sounds, die sich wie ein roter Faden durch den Track ziehen, hält sich der Kitsch zumindest musikalisch in Grenzen.
Treibend nach vorne rocken die Hamburger schließlich in "Selig". Zudem transportiert die Band hier politische Inhalte auch völlig unpeinlich, und bissige Töne kommen nicht zu kurz, wenn Plewka wütend singt: "Alles brennt, die Meere sterben / Wähler denken: 'Das wird schon werden' / Der Look ist cool, der Style ist geil / Wir sind Gewinner / Auf jeden Fall."
In den restlichen Stücken besinnen sich Selig größtenteils auf das Zwischenmenschliche und Gefühlvolle. "So Lang Gewartet" bettet melancholische Zeilen über enttäuschte Erwartungen in einen Meer aus Streichern. In "Postkarte" erzählt Plewka zu dunklen Akustikgitarren- und Cello-Sounds vom unabänderlichen Lauf des Schicksals. "Du" bietet zum Schluss zu schunkelnden Schlagzeug- und Pianoklängen Liebeslyrik zum Dahinschmelzen, etwa wenn es heißt: "Du bist die Erste und die Letzte und immer noch da / Du bist der Grund, warum ich singe und gesungen hab'." Da verschmerzt man auch das etwas zu schläfrig geratene "Zeitlupenzeit" zuvor.
Insgesamt gibt es auf "Myriaden" musikalisch und textlich viel Licht, aber auch ein wenig Schatten. Auf so manches Selbstzitat und ein paar wenige Experimente hätte man gut und gerne verzichtet. Dafür bewegt sich die Scheibe in den besten Momenten nahe an der Klasse des Debüts.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Schön, dass ich der Erste sein darf, der dieses Album schriftlich beurteilt.
Zu mir: ich bin Selig-Fan der ersten Stunde und verfolge die Band seit Mitte der 90er-Jahre und war auch bereits auf Konzerten der Band.
Ich möchte beginnen die Songs erstmal einzeln durchgehen, bevor ich mein Fazit erstelle.
Hier die Songs:
1. Süßer Vogel
Ein definitiv ungewöhnlicher Songs, der im 60er/70er-Jahre Hippiesound daherkommt. Aber nach mehrmaliger Hören bekommt der Song echten Ohrwurmcharakter. Toller Text zudem.
Gelungener Song = 4/5 Sterne
2. Alles ist so
Düsterer Midtemposong, wie er auf jeden Album seit dem Comeback zu finden ist. Nichts besonderes, aber sehr typisch für Selig. Highlight ist eine kurze Rappassage von Jan in der Mitte des Songs.
Bleibt nicht hängen = 2/5 Sterne
3. Myriaden
Der Song beginnt wie ein alter Coldplaysong mit sanften Gitarrenklängen. Aber Myriaden entwickelt sich zu einem Höhepunkt des Albums. Tolle Seligballade mit nettem Beat und eingängigen Refrain. Hier wird jeder Fan schnell mitwippen und mitsingen.
Großartiger Song = 5/5 Sterne
4. Spacetaxi
Definitiv der ungewöhnlichste Song des Albums. Funkige Klänge im Jamiroquai-Stile und mit Stefan-Raab-Refrain lassen den Song wirken als wollten Selig beim ESC antreten. Hoffen wir, dass sie dies nicht tun. Der Stil passt nicht zu Selig und lässt den Song daher ziemlich dahinplätschern.
Mißlungenes Experiment = 1/5 Sterne
5. SMS K.O.
Der nächste Song beginnt wie Teil 2 von Ohne dich. Eine relativ kitschige Trauerballade rund um Trennungsschmerz nach SMS-Trennung. Der Gesang wirkt hier ein wenig anstrengend und übertrieben hochtönig und jammernd, was den Song etwas die Qualität nimmt. Gelungen ist das Gitarrensolo gegen Ende des Songs, was aber die Gesamtnote nicht mehr entscheidend beeinflusst.
Hier wäre mehr möglich gewesen = 3/5 Sterne
6. Angesicht zu Angesicht
Erneuter ruhiger Song mit treibendem Beat und wenig Instrumentalisierung. Der Refrain ist gelungen und eingängig, aber der Rest plätschert ohne großen Höhepunkt so vor sich hin.
Nichts besonderes = 3/5 Sterne
7. Selig
Der einzige wirkliche etwas härtere Rocksong des Albums. Aber grundsätzlich ein typischer Seligrocksong, wie sie vor allem nach ihrem Comeback einige geschrieben haben. Dadurch, dass es auf diesem Album der einzige schnellere Rocksong ist, hat der Song aber hier ein gewisses Alleinstellungsmerkmal und gefällt dadurch.
Typischer Seligrocksong = 4/5 Sterne
8. Paradies im Traumrausch
Nach dem einzigen Rocksound schweifen Selig hier wieder in ruhige Gewässer ab. Dieser Song kommt sehr schlagerähnlich daher. Sensibler Gesang und eine Melodie wie aus dem ZDF-Fernsehgarten lassen diesen Song sehr verspielt und kitschig wirken.
Könnte man mit bei F.Silbereisen auftreten = 2/5 Sterne
9. Postkarte
Ein netter 2 Minuten Gitarrenakustiksong, wie er gut für den Lagerfeuerabend geeignet wäre. Text und Melodie sind aber gut abgestimmt und lassen den Song daher qualitativ wertig erscheinen.
Gelungener Unpluggedsong = 4/5 Sterne
10. So lang gewartet
Ein weiteres Highlight wartet in Song 10 auf die Fans. "So lang gewartet" beginnt lässig und steigert sich vor allem im Refrain zu einer klasse Ballade. Der Song begeistert mit einem emotionalen, tollen Gesang von Jan und tollen Streichereinlagen im Refrain sowie einer tollen Bridge in der Mitte.
Wunderschöne Ballade = 5/5 Sterne
11. Zeitlupenzeit
Ein echt cooler Song kommt nun mit Zeitlupenzeit. Der Song gefällt mit groovigem Beat und einem Refrain, der schnell im Kopf ist und zum Mitsingen anregt. Der Song macht Spass und der Gesang von Jan mit seiner typischen tiefem Stimmlage gibt den Song den richtigen Kick.
Gelungener, moderner Poprocksong = 4/5 Sterne
12. Du
Das Album wird abgerundet durch einem weiteren Highlight des Albums. "Du" kommt mit seinem Text auf sanften Klavier- und Drumbeats wie ein Gedicht daher und wird superemotional von Jan vorgetragen. Beim heulenden "Duuuuu" möchte man direkt mitmachen und die sich steigernden Gitarren geben dem Song die nötige Dramaturgie.
Ein echtes Gedicht, einfach toll = 5/5 Sterne
Albumfazit:
Mit dem Album werden Selig allen Seligfans eine große Freude bereiten, weil die Band es wieder geschafft hat echte Highlights für die Fans zu schreiben. Der Sound ist aber typisch für Selig und die Band wird damit sicher nur wenige neue Fans gewinnen, weil die Radiohits wie schon auf den Vorgängeralben fehlen. Insgesamt ist das Album ruhiger von den Sounds als seine Vorgängeralben, aber grundsätzlich etwas eingängiger von den Melodien. Einige Songs haben das Potential auch live zu Dauerbrennern zu werden. Aufgrunddessen gebe ich dem Album insgesamt 4/5 Sterne.
Eigentlich war ja der Rezensent oben der erste \0/
coool!
Immer noch eine der besten Bands, die Deutschland zu bieten hat, werd nur mit der sterilen Produktion noch nicht warm, aber mal sehen.
Insgesamt solides Spätwerk, es sticht weder positiv noch negativ stark etwas vor, mal sehen, wie die Platte sich entwickelt.
Klingt insgesamt wie eine interessante B-Seiten-Sammlung. Mir fehlen die Hits und der rote Faden.