laut.de-Kritik
Gute Idee, schwache Umsetzung.
Review von Andreas DittmannAutos, Schritte, Baustellen, Gespräche. Nur wer genau hinhört, nimmt beim Intro überhaupt Musik wahr. Das sanfte Gitarrengeklimper geht im Straßenlärm komplett unter. "I Am Alive In Everything I Touch" startet mit einem außergewöhnlich langen, unmusikalischem Einstieg. Das bricht freilich der zweiten Song harsch ab. Dann grätscht endlich die E-Gitarre rein, und Sänger Shane Told brüllt sich die Seele aus dem Leib. So gehört sich das.
Bei Silversteins achter Platte in 15 Jahren handelt es sich wieder um ein Konzept-Album. Die Band teilt die Songs den vier Himmelsrichtungen zu: Je drei Lieder stehen unter den Titeln Borealis (Norden), Austeralis (Süden), Zephyrus (Westen) und Eurus (Osten). Jeder Song spielt in einer anderen Stadt. Die Atmosphäre, die zum Beispiel in "Late on 6th" zu hören ist, kommt direkt aus dieser Stadt. "Face Of The Earth" zum Beispiel ist Chicago gewidmet, "Desert Nights" Phoenix. "I Am Alive In Everything I Touch" ist also ein Reisealbum, das in Toronto startet und dort auch wieder aufhört.
Das klingt nach einer fantastische Idee. Jeder Himmelsrichtung könnte anders klingen, die Texte könnten sich auf die Städte beziehen, die Städte hätten einen charakteristischen Klang. Tja, äh, nix da. Wer ein Konzeptalbum im Stile des "Alchemy Index" von Thrice erwartet, wird schwer enttäuscht.
Was hätte man mit dieser Idee nicht alles schaffen können? Silverstein machen eigentlich nicht viel mehr, als einen theoretisch guten Ansatz in ein gutes, aber ziemlich normales Emo-Postcore-Album zu verwandeln. Ein tatsächliches klares Konzept, das in den Himmelsrichtungen erkennbar wäre, fehlt. Die Texte passen zwar irgendwie schon zusammen und schlagen einen Bogen, drehen sich aber allesamt um Einsamkeit auf der Straße. Das ist alles dermaßen schade, dass ich mir wünschen würde, nichts von der zu Grunde liegenden hochtrabenden Idee erfahren zu haben.
Denn musikalisch hat die Sache Hand und Fuß. Die Jungs haben mittlerweile halt einfach raus, wie man melodischen Emocore macht. Die Melodien sind poppig eingängig, die Shouts und Breaks dafür richtig fies, hart und heftig. Das macht alles durchaus Spaß. Es gibt heftige Headbanger wie "Milestone" oder "Heaven, Hell And Purgatory", Powerpopper wie "Desert Nights" und sanfte, melancholische Balladen wie "Late On 6th" oder "Toronto (Unabridged)".
"In The Dark" oder "A Midwestern State Of Emergency" kombinieren in bester Silverstein-Manier genau diese verschiedenen Seiten, lassen eine Ohrwurmmelodie in Grund und Boden zerschmettern und bauen danach wieder alles auf. Das klingt genau so, wie man sich das vorstellt und (als Fan) erhofft. Erstaunlich bleibt nur, wie schwach der Sound stellenweise tönt, obwohl es nicht so wirkt, als nehme die Band sich zurück.
Im letzten Song erklingt dann wieder die sanfte Gitarrenmelodie, die im Intro nur undeutlich zu hören war. Ein gelungener Bogen, der die Platte schön zusammenhält. Trotz dieses versöhnlichen Endes bleibt ein nerviger Nachgeschmack. Für sich genommen ist "I Am Alive In Everything I Touch" kein schlechtes Album. Kein Song sticht negativ hervor. Wer sich aber vorstellt, was Silverstein aus ihrer Konzeptidee hätten machen können, wird schlicht enttäuscht sein.
1 Kommentar
das ist die erste laut.de albenkritik, der ich grösstenteils zustimmen kann. einzelne titel sind hammer, schade hat man nicht mehr aus dem konzept gemacht. würde aber trotzdem 4 sterne geben, ausserdem ist bei mir kein nerviger nachgeschmack geblieben, finde es trotz allem ein gutes silverstein-album