laut.de-Kritik
Jeder Song führt eine Melodie für die Ewigkeit im Köcher.
Review von Ulf KubankeSo still, Dunkelheit über Europa; Schwarzer Planet! 1985 - ein Jahr nach Orwell gingen auch der Gothic-Kultur ein wenig die Lichter aus.
Joy Division längst über den Jordan (Die Disco-Zuckerwatte von New Order war kein Ersatz). Bauhaus ebenso. Die ehemals so verlässlichen Cure machen auf einmal swingenden Dancepop ("Lovecats", "Close To Me"), den man eher von Boy George befürchtet hätte. Und die guten Fields sind noch nicht recht flügge.
Nur eine einzige First Generation-Postpunkzelle drehte so richtig auf: Oberschwester Andrew Eldritch samt seinen Sisters Of Mercy. Mit "Body Electric" oder dem Evergreen "Temple Of Love" (noch ohne die großartige Ofra Haza) hatte man bereits beachtenswerte Indie-Hits gelandet. Doch erst das Hinzustoßen von Wayne Hussey macht die Magie komplett. Der kurze historische Moment, in dem sich die Egos Eldritch/Hussey live und im Studio in nahezu blindem Verständnis ergänzen, macht ihr Debüt "First And Last And Always" zum musikalisch einzigartigen Meilenstein, zur absoluten Messlatte.
Eldritch selbst wehrt sich seit jeher ebenso standhaft wie aussichtslos gegen den Begriff 'Flaggschiff des Gothic' für diese LP. Man kann ihm aus heutiger Sicht nur zustimmen. Diese sinistre Perle hat so gar nichts gemein mit - rein künstlerisch betrachtet - weinerlichen Dramaqueens oder angedunkelten Erbauungsonkeln. Stattdessen: Jeder Song führt eine Melodie für die Ewigkeit im Köcher: Weltschmerz, Romantik und eine Prise Pathos. Stets gewürzt mit dem sarkastischen, bisweilen selbstironischen Humor ihres exzentrischen Frontmanns.
Das Titelstück ist einer dieser perfekten Rocksongs ohne jeden überflüssigen Schnörkel. Eine warm grundierende Hook für die Ewigkeit trifft auf Husseys gezupfte 12-String. Zur Kulmination addieren sie ein paar songdienliche Pianotupfer. Andrews einzigartige Kojotenstimme fegt wie ein unheilbringender Sturm durch den gesamten Hörer. "First and last and always till the end of time / First and last and always mine!"
Husseys Produktionserfahrung als ehemaliges Dead Or Alive-Mitglied zahlte sich im Studio hörbar aus. Eldritch wird ihn in den späteren Jahren des Zerwürfnisses gern verachtend als 'the Ex-Dead Or Alive' bezeichnen. Unter seinem Einfluss gewinnen die Instrumente, vor allem die Gitarren, ein im Grundton warm klingendes Soundgewand, das der melodischen Seite ihrer Songs sehr entgegen kommt. Hierzu unbedingt anhören: "Nine While Nine". Ein fesselndes Gitarrenthema lässt sich von einem nicht minder unwiderstehlichen Keyboardpiano umschwärmen. Eldritchs Vocals wechseln derweil von britischem Understatement zur blanken, finalen Raserei.
Zum Kontrast ertönt, ausnahmslos wie stets, das konstante Gedengel kalter Drumcomputer-Stakkati von Dr. Avalanche, einer Oberheim DMX-Maschine. "Mr. Eldritch, warum gibt es bei den Sisters immer nur einen Computer und keinen Menschen als Drummer?" "Weil die alle doof sind!" An dieser Einstellung hat sich bei dem langjährigen Wahlhamburger auch mehr als 30 Jahre nach Bandgründung nicht das Geringste geändert.
Textlich liegt ebenfalls alles in den Händen des späteren "This Corrosion"-Schöpfers. Doch auch sein schwarzer Brithumor vermag nicht darüber hinweg täuschen, dass der Mann emotional wie körperlich komplett hinüber ist. Zwischen dem Sänger und seinen lyrischen Egos herrscht keinerlei Distanz. Biochemische Eigenexperimente und die zerrüttete Beziehung zu seiner deutschen Freundin ziehen sich wie ein roter Faden durch das Album. Bis hin zum Gipfel: der finsteren Wall of Sound "Some Kind Of Stranger".
Doch Fans und Novizen bleibt meist der ewige Live-Favorit "Marian" im Ohr. Ein Kleinod, brilliant gemischt aus Husseys atmosphärischem Zwölfsaiter und einem desillusionierten Eldritch. Dieser wendet sich an die Angebetete direkt auf deutsch: "Ich hör' dich rufen, Marian. Kannst du mich schreien hören? Ich bin hier allein." Von der Beziehung habe er seinerzeit mehr als eine echte Narbe zurüchbehalten.
So ist jeder einzelne Track eine brennende Fackel in diesem britisch rockenden Gothnebel. Mein ganz persönlicher Höhepunkt der Platte bleibt "Amphetamine Logic" (Eldritch: "That is simply a song about logic"). Die sägend-schroffe Strophe mündet in einen extrem catchy Refrain. Sein Gesang steigert sich zur puren Ekstase, zu wildem Geschrei. "Men / Bought and sold / And the world keeps turning / People cold / And people burning!"
Noch während den Aufnahmen begann die Band auseinander zu brechen. Zwist, Hass und Prozesse! Aus den Trümmern gingen die ebenfalls superben The Mission und Andrew Eldritch als schicke Soloschwester hervor. Dennoch ist es bedauerlich, dass solch eine fruchtbare Zusammenarbeit einmalig bleiben soll. Oft kopiert und nie erreicht. Aber vielleicht ist noch nicht aller Tage Abend und es besteht zumindest eine kleine Chance auf Reunion der Streithähne? Denn wie heißt es in der finalen Zeile der Platte: "My door is open wide / Some kind of stranger / come inside."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
38 Kommentare mit einer Antwort
Unnoetig da kein Daydream Nation.
Ich persöhnlich halte Floodland für besser
Ich persöhnlich halte Floodland für besser!
@freibeuter: ich meinte eigentlich den rezitext; war ich wohl nicht so deutlich, aber deine antwort ist auch schön.
@ente: lass es mich mal so sagen: wo auch immer es um das thema tiamat geht. ich würde mich auf nachfrage stets für die 'wildhoney' zur ehrung aussprechen. wer das dann auch immer schreibt.....
Achso, ich verstehe...:)
Wie gesagt, deine Rezi war ja überhaupt erst der Auslöser dieser spontanen Suchaktion.
Natürlich hat auch mein Cousin (pfälzisch/ saarländisch "Kusseng" - ich geb's ja zu) deine Lobeshymne auf diesen Sisters-Monolithen gelesen...und wir sind einer Meinung (das behaupte ich jetzt einfach mal): Absolut gelungen!
@Sisters of Birthday: Alles Gute zu Andrews heutigem 60!