laut.de-Kritik

Leute, lasst etwas Klopapier für andere übrig!

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Deutschland im März 2020: Aus Angst vor dem neuartigen Coronavirus horten viele Menschen Klopapier und Nudeln, als wäre die Zombie-Apokalypse schon ausgebrochen. Das Thema dominiert die Medienlandschaft so stark, dass der rechtsextreme Terror und der Klimawandel zumindest zeitweise aus den Köpfen zu verschwinden scheint. Das neue Jahr lieferte in dreieinhalb Monaten jedenfalls genug Stoff, um die Stirn in Falten zu legen.

Dass die altgedienten Polit-Punks Slime mit ihrer neuen Platte "Wem Gehört Die Angst" nach über 40 Jahren Bandgeschichte so sehr am Puls der Zeit liegen, hätten sie vielleicht selbst nicht gedacht. Ob nun angebracht oder irrational - die Welt ist in den letzten Wochen gefühlt ein gutes Stück ängstlicher geworden. Da kommen die Hamburger mit ihrem geerdeten Pragmatismus genau zur rechten Zeit.

"Lasst euch mal nicht verrückt machen", bildet die Kernaussage des Openers und Titeltracks. Dabei zielen Slime vor allem auf die Hetze und Meinungsmache vom rechten Rand der Gesellschaft ab, der die Angst als Mittel zum Wählerfang instrumentalisiert. Bürger zu 'besorgten Bürgern' machen lautet die Devise: "Die Angst kann uns entzweien / Die Angst kann uns ausbeuten / Viel zu viele haben Angst / Vor den falschen Leuten", schließt Frontmann Dirk Jora diesen energetischen Startschuss und liefert passende Worte für diese leicht chaotische Zeit.

Klanglich liefern Slime das ab, wofür sie seit den Achtzigern stehen: Auf "Wem Gehört Die Angst" versammeln sich größtenteils geradlinige Retro-Punk-Tracks, die ungeschliffen und ehrlich zum Mitgrölen anregen. Melodischer geht es etwa im Nostalgie-Overload "Paradies" zu, in dem Jora auf Anti-Atomkraft-Proteste und Rio Reiser zurückblickt. Bei dem heiteren Refrain könnte man die brutalen Auseinandersetzungen von Polizei und Anti-Brokdorf-Demonstranten Anfang der Achtziger glatt für eine friedliche Menschenkette mit Blumenkränzen halten. Slimes Retrospektive scheint von leichter Altersmilde durchzogen.

Deutlich energischer geht die Band mit aktuellen Themen wie dem Klimawandel in "Wenn Wir Wollen" um. Auch wenn der Protest der Fridays-for-Future-Bewegung nicht mehr viel mit Iros und Sicherheitsnadeln zu tun hat - die Auflehnung gegen das Establishment bleibt Punk und so reiht sich auch Slimes dystopische Zukunftsvision von Hamburg als Atlantis wunderbar in die Proteste ein: "Ich war niemals Öko, doch auch ich hab's längst kapiert / Diese Haltung 'Nach uns die Sintflut' finde ich degeneriert", stellt Jora klar. Die Schüler auf den Freitagsdemos würden wohl sagen "Thank you, Boomer".

Ebenso scharf rechnen die Hamburger mit den ewig Unzufriedenen ab, die ihren Frust mit rechtem Gedankengut zu kompensieren versuchen. Bissig und pointiert geht es in "Weißer Abschaum" Wutbürgern, Verschwörungstheoretikern und Konsorten an den Kragen: "Dein Selbstmitleid stinkt zum Himmel / Deine Seele ist verschimmelt / Deine Sprüche hat dir niemand geglaubt / Du kannst die Welt nicht mehr verstehen / Willst die Uhr nach hinten drehen / Heute bist du nur noch dumpf und verfault".

Slime gehen hier sogar so weit und thematisieren Kindesmissbrauch in drastischer Sprache und grenzen damit hart an die Geschmacklosigkeit. Der widerliche Kloß im Hals, der sich bei der Passage bildet, gehört wohl aber auch zur Intention der Band. Eher dumpfe Lyrik findet außerdem im Punk-Metal-Hybriden "Masse" statt. Der Reim "Die Masse hat keine Klasse" wirkt mittlerweile doch sehr abgeschmackt. Immerhin hauen die druckvolle Produktion aus dem Studio von Gitarrist Christian Mevs und die entfesselten Gitarrensoli den Song aus dem Mittelmaß raus.

Mit "Solidarity" steht am Schluss des Albums noch ein Highlight an, das zusammen mit dem Liedermacher Bill Collins entstand. Der englischsprachige Song verdrischt mit einer Bouzouki den Faschismus im Eiltempo und greift gleichzeitig das Thema Zusammenhalt vom Anfang wieder auf. Damit liegen Slime zurzeit auch goldrichtig. Leute, lasst etwas Klopapier für andere übrig, das wird schon. Und auch wenn Slime auf "Wem Gehört Die Angst" gelegentlich über die eigene Vergangenheit stolpern: Mit ihren kernigen Aussagen zum Zeitgeschehen bleiben sie erfrischend relevant.

Trackliste

  1. 1. Wem Gehört Die Angst
  2. 2. Paradies
  3. 3. Hölle
  4. 4. Die Suchenden
  5. 5. Wenn Wir Wollen
  6. 6. Ebbe Und Flut
  7. 7. Die Toten Wollen Wieder Alleine Sein
  8. 8. Weißer Abschaum
  9. 9. Die Masse
  10. 10. Fette Jahre
  11. 11. Kein Mensch
  12. 12. Odyssee
  13. 13. Solidarity

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