laut.de-Kritik

Reich trifft Radiohead für ein großes Spätwerk.

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"Ich kannte Johnny Greenwood zunächst nur durch seine großartige Musik, die er für den Film 'There Will Be Blood' schrieb. Wer das hört, denkt nun wirklich nicht, dass der Typ in einer Rockband spielt. Wir trafen uns. Wir unterhielten uns, und wir verstanden uns sofort blendend." So lakonisch beschreibt Steve Reich den Ursprung seiner Inspiration zu "Radio Rewrite". Reich trifft Radiohead und macht daraus ein großes Spätwerk.

Steve Reich ist einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Mit seinen Werken revolutionierte der Urvater der Minimal Music nicht nur die Klassik, sondern gleich auch die Populärmusik von Rock bis Ambient. Es gäbe keinen Bowie, keinen Eno, keinen Lou Reed und erst recht kein "Tubular Bells" von Mike Oldfield ohne das inspirierende Fundament des mittlerweile 78-jährigen New Yorkers. "Radio Rewrite" gelingt insofern tatsächlich die Bezug nehmende Verbindung von musikalischer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

"Heute, im frühen 21. Jahrhundert leben wir in einem Zeitalter der Remixes, in dem Musiker Audio-Samples fremder Musik zu eigenen Werken verbinden. 'Radio Rewrite' ist mein neuester Beitrag zu diesem Genre." Getreu Reichs Philosophie - keine musikalische Wiederholung ohne zumindest minimale Veränderung - verknüpft der Urvater der Remixes und Loops hier Rock mit Klassik. Sein Ergebnis ist jedoch kein Crossover-Bastard. Die Platte bietet stattdessen etwas vollkommen Neues, Eigenständiges und Andersartiges, das in kein schabloneskes Backförmchengenre passt.

Sein einflussreiches "Six Pianos" aus den frühen 70ern bekommt nicht nur ein Lifting, sondern wird vom magischen Spiel Vicky Chows gleich komplett renoviert und leicht variiert. Trotz der nahezu rauschhaften Geschwindigkeit, mit der die kanadische Pianistin über die Tasten fegt, ist der sinnliche Ausdruck ihres Spiels von einer präzisen und emotionalen Ruhe geprägt, die dem mehr als 40 Jahre alten Original um einige Längen voraus ist. Auch Leute, die sonst mit Klassik eher nichts anfangen können, dürfen sich von diesem dynamischen Sturm getrost mitnehmen lassen.

Jeder weitere Ton des Albums ist ein Dialog zwischen Reich und Radiohead. Und was für einer! Jonny Greenwood schnappt sich Reichs 1987 von Pat Metheny eingespielten "Electric Counterpoint", entworfen für ein knappes Dutzend elektrischer Gitarren und Bässe. Das dreiteilige Stück ist seit langer Zeit ein Liebling des Radiohead-Leadgitarristen. Gern spielt er es live bei Soloauftritten.

Obgleich Greenwood spürbar ganz und gar mit dieser Gitarrenorgie verwachsen ist, nähert er sich ihr anders als ehedem Metheny. Wo jener mit filigranem, sehr engmaschigen Gezupfe einen ebenso eleganten wie zerbrechlichen Ausdruck herbei zauberte, setzt Greenwood auf einen roheren Ansatz. Anschlag und Sound sind schroffer und lassen jeder einzelnen Note mehr Raum, um als Echo nachzuhallen. Beide einander ebenbürtigen Versionen kann ich nur jedem Mike Oldfield-Fan als Ersatzdroge ans Herz legen, der seit mehr als 30 Jahren einen würdigen Nachfolger auf "Tubular Bells"-Niveau vermisst.

Danach revanchiert sich Reich mit einer Komposition, die er nach dem Hören von Radioheads Musik ersann. "Als ich Jonny in Krakau meinen 'Electric Counterpoint' spielen sah, habe ich danach sofort die komplette Radioheadmusik gehört. Vorher kannte ich sie nur dem Namen nach. Zwei Stücke haben mich dabei besonders beeindruckt: 'Everything In Its Right Place' von 'Kid A' und 'Jigsaw Falling Into Place' von 'In Rainbows'. Also habe ich mir etwas von dieser besonderen Energie geborgt und in etwas komplett anderes transformiert."

Dabei reizte Reich von Beginn an die Idee, seine eigene Interpretation der Rockmusik ohne das typische Instrumentarium zu realisieren. Heraus kommt eine in fünf Parts gegliederte, rein klassisch orchestrierte Mischung aus Suite und Mini-Symphonie, in der man die konkreten Songs selbstredend kaum wieder erkennt, wohl aber denselben Spirit. Beide teilen die Lust am Verbinden von sprunghafter, sehr wilder Dynamik mit in sich ruhenden, sehr schwebenden Passagen.

Mit "Radio Rewrite" kommt der nimmermüde Steve Reich mithin nicht nur endgültig im 21. Jahrhundert an. Ihm gelingt seine wohl beeindruckendste Platte seit seinem vor mehr als einem Vierteljahrhundert erschienenen Meilenstein "Different Trains". Gleichzeitig ist das Album ein emotionaler Brückenschlag zwischen den besonders hierzulande unsinnig getrennten Sparten von E- und U-Musik. Weiterhören mit der "Low Symphony" von Philipp Glass.

Trackliste

  1. 1. Fast
  2. 2. Slow
  3. 3. Fast
  4. 4. Piano Counterpoint (1973)
  5. 5. Fast
  6. 6. Slow
  7. 7. Fast
  8. 8. Slow
  9. 9. Fast

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