laut.de-Kritik
B-Seiten-Feeling im Waldbad.
Review von Yannik GölzNun stehen wir also am Rande der "Folklore"-Wälder, der Inspirationsquelle des letzten Albums, und rüsten uns für die nächste Wanderung. Den Abdruck, den die überraschende Veröffentlichung von "Folklore" auf den Mythos Taylor Swift und das Popjahr 2020 hinterlassen hat, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Nicht nur, weil sich die Platte verkaufte wie Bubblegum-Pop und Preise abräumen wird wie ein kritisch reflektierter Metafilm über einen Schauspieler bei den Oscars: "Folklore" machte es erstmals auch für die Karohemden-Camps cool, der Sängerin ihre seit einem Jahrzehnt wohlverdienten Kudos als Songwriterin zuzugestehen.
"Evermore" knüpft nahtlos an den Vorgänger an, es könnte die Deluxe-Edition sein. Trotzdem unterscheiden sich die Wege der beiden Platten. "Folklore" war Taylors Auteur-Album, die Fäden einer großen Story liefen in einer kohärenten Spannungskurve und absolut idiosynkratischen Ästhetik zusammen. Es war das Cottagecore-Citizen Kane. "Evermore" wandert nun zielloser und eher querfeldein. Es liefert mehr Anthologie, mehr assoziatives Songwriting und weniger großes Statement.
Dadurch entstehen Stärken und Schwächen. Die größte Schwäche fühlt sich fast zu offensichtlich an, um sie auszusprechen: Soundmäßig wird der Trick langsam alt. Selbst Fans von The National und Jack Antonoff dürften bei nun über dreißig Taylor Swift-Songs in diesem Soundbild die Wimpel wieder einsammeln, denn über lange Strecken von "Evermore" passiert musikalisch nicht wahnsinnig viel. Wenn man nach dem ersten Hördurchgang unwillkürliche Ohrwürmer von der ersten Platte bekommt, spricht das nicht vorteilhaft über die Refrains der zweiten.
Nicht, dass "Folklore" ein Album der großen Hooks gewesen wäre, aber viele Geschwisterpaare offenbaren sich auf "Evermore" in ihrer noch sperrigeren Art. In "Happiness" oder "Ivy" spiegeln sich Momente von "My Tears Ricochet", durch "Gold Rush" hallt "August", und "Willow" eröffnet einem "Cardigan" nicht unähnlich. Und da weder ein roter Faden noch der Neuheitseffekt in die Bresche springen, kommt gerade im Mittelteil bei mehreren Songs B-Seiten-Feeling auf.
Doch obwohl manche Seiten etwas langweiliger geraten, finden sich in der neuen Formlosigkeit auch Chancen. "Champaign Problems" kombiniert die neue Indie-Sensibilität mit dem nostalgischen Scheinwerfer-Glam der "1989"-Ära, während sich "No Body No Crime" in Zusammenspiel mit Haim zu einem launigen und morbid faszinierenden True Crime-Country-Banger entfaltet. Generell: Das Storytelling bleibt scharf, Swift textet einen kurzweiligen Episodenroman mit kurzen Ausreißern nach unten.
Ob es um abgelehnte Heiratsanträge, romantische Rückzieher in die alte Heimat oder den anmutigen Tribute an die verstorbene Großmutter geht, Taylors kühle, klar beobachtende und sezierend einordnende Erzählstimme fügt Szenerien, charakterliche Details und große Schicksale erneut schwerelos zu Einblicken in ganze Generationen zusammen. Wenn sie sich nicht zu mancher Twitter-Level Punchline hinreißen lassen würde ("I come back stronger than a 90s trend", okay), wäre ihre Narration über "Evermore" mindestens genauso fehlerfrei wie auf "Folklore".
Trotzdem treten Ermüdungserscheinungen auf, was vor allem daran liegt, dass das Potential ihres Charakter-Ensembles nicht voll genutzt wird. So schön und interessant es klingt, dass uns verschiedene Charaktere begegnen, deren Perspektiven und Geschichten wir nachvollziehen, überrascht es doch, dass jeder einzelne die Sprechweise, Stimme und den Horizont von Taylor Swift mitbringt.
Nach 15 weiteren Nummern stellt sich Routine ein, eine gewisse Erschöpfung der distanzierten Neugier, mit der jede einzelne Figur des Casts auf die Welt schaut, denn dieses Gefühl von Distanziertheit überträgt sich schließlich auf den Hörer. Man wünscht sich mehr Ausreißer wie das direkte, unverkopfte "Dorothea" oder das erfrischend gemeine und emotional aufgewühlte "No Body No Crime". Dass die beiden Songs neben "Long Story Short" auch noch die effektivsten Refrains der Platte bergen, macht die Auswahl der Favoriten einfach.
So wandern wir ein zweites Mal dahin, dieses Mal weniger überrascht von den Orten, die sich in den folklor'schen Wäldern verbergen. Auch, wenn querfeldein die ein oder andere faszinierende Geschichte versteckt liegt, und das Umherstreifen uns an neue Gipfel führt, ist es doch am Ende dieselbe Meile Unterholz, durch die wir traben. Wenn Taylor Swift dann ihre Geschichtsstunde über traurige Romanzen im fast durchgehend gleichen Ton über fast durchgehend gleiche Musik vollendet hat, sieht man die Bäume langsam vor lauter Wald nicht mehr. "Evermore" liefert den Nachschlag zu einem ihrer großen Siegeszüge, der jede Zeit wert ist - falls man die erste Runde mochte, transformiert ihn aber kaum.
5 Kommentare mit einer Antwort
gähn
... dann doch lieber Everlast
Ich weiß nicht warum, aber irgendwie finde ich evermore und folklore einfach großartig. Das ist vor allem seltsam, weil Lover und alles vor Reputation (bis auf 1989) überhaupt nicht meins war.
Für mich eine gelungene Ergänzung zu folklore, auch wenn es einige wenige Schwächen hat (z.B. tolerate it und dorothea).
4.5/5
Mir fehlt hier ganz klar ein klassischer Ragism Kommentar.
Sorry. Ich meine, klar find ich die Musik superlangweilig. Aber die Swiftler ist dabei nicht völlig ferngesteuert. Und es ist völlig eindeutig, für wen sie da abliefert. Ich schmähe nur ab einem gewissen Grad von kalkulierter Verlogenheit.
Da lohnt es sich doch fast für 140,- Merch Artikel zu kaufen, um dann die Möglichkeit zu bekommen ein 200,- Ticket zu erwerben.