laut.de-Kritik
Das Leben kann sehr lang sein, wenn man einsam ist.
Review von Martin Mengele1986: das Jahr, in dem Falcos "Rock Me Amadeus" mit deutschem Sprechgesang erstmals und bislang einmalig die US-Billboard Charts anführt. Während im Mainstream-Kino Tom Cruise in "Top Gun" dem Geschwindigkeitsrausch frönt, verstört derweil David Lynch mit "Blue Velvet" das Publikum. Es ist aber vor allem das Jahr, in dem radioaktives Material aus dem sowjetischen Reaktor Tschernobyl über ganz Europa nieder regnet, mit verheerenden Folgen bis heute. Etwa zeitgleich werden 37 Minuten verzückende Popmusik unter dem kontroversen Titel "The Queen Is Dead" in den Äther gestrahlt, ebenfalls mit Nachwirkungen bis heute.
Ob die Größe des Albums damals schon fühlbar war, lässt sich heute schwer nachweisen. Fest steht, dass die übergroße Geste bereits mit dem Cover in Gestalt des engelhaften Alain Delon im Halbdunkel erkennbar werden musste. Liegend, die Hände fast dürergleich zum Falten bereit, verlieren sich seine Augen längst im Jenseits. Darüber der Titel in pinkfarbenen Serifen auf dunkelgrünem Untergrund, fast wie die Inschrift an der bemoosten Pforte eines Diven- oder Dichter-Mausoleums auf dem Père Lachaise-Friedhof in Paris. Das ikonenhafte Bildnis ist aber nicht nur Schmuck, sondern auch Schutzschild, denn es dient der gefälligeren Auslegung des Titels, der erwartungsgemäß das gewollte Aufsehen erregen sollte, vornehmlich auf der britischen Insel.
Auch der gleichnamige, mit Pub-Grölen, Gitarrenfeedback und einem furiosen Drum-Feuerwerk eingeleitete Titelsong ist offenkundig eine großmäulige Abrechnung mit dem Englischen Thron und der Aristokratie, die Prinz Charles im Brautschleier seiner Mutter zeigt und selbige mit ihrem Kopf in der Galgenschlinge. Genug Zündstoff um klarzustellen, dass hier vier junge Mancunians gehörig auf Punk-Attitüde gebürstet sind und anarchischer rocken wollen, als mit ihren beiden Vorgängeralben.
Schließlich ist der Song auch ein Abgesang an die Diva in Sänger Morrissey selbst, der sich mehr darum sorgt, dass der Regen den Winkel seiner Tolle spitzt, als um das Getratsche in den Medien. Eine Art Coming of Age der provokant halbirischen Frontdiva der Smiths, die sich humorvoll aber auch mit hedonistischem Habitus eingesteht, dass das Leben sehr lang ist, wenn man einsam ist. Eine Gemeinsamkeit unter den Diven übrigens, ob nun die Königin von England oder der Sänger einer englischen Popband.
Um Zensur oder eventuellen Verboten der Platte wegen dieses Songs vorzugreifen, machen sie im Schunkel-Rhythmus mit "Frankly, Mr Shankly" bereits auf anstehende Gehaltsforderungen gegenüber ihrem Label Rough Trade aufmerksam. Ein Rechtsstreit um Tantiemen war seinerzeit anhängig und die Band fühlte sich im Stich gelassen. So wendet sich der Frontmann direkt an Labelboss Geoff Travis, verspottet ihn und nennt ihn einen "pain in the ass" ("Schmerz im Arsch"). Sarkasmus war immer schon Morrisseys bevorzugtes Mittel für Rebellion und letztere bildet eines der Grundthemen dieses Albums.
Aber auch Außenseitertum und eben Einsamkeit. So leiten sie mit "I Know It's Over" untypisch in ein depressiveres Kapitel über, wo Muttersöhnchen Morrissey im Downbeat-Rhythmus zurück unter Mamas Rockzipfel schlüpfen will und diese anbettelt, ihn vor den Bedrohungen des Lebens zu beschützen. Den Stimmungstiefpunkt ihrer wahrscheinlich gesamten Karriere erreicht die Band mit "Never Had No One Ever". Das noch disharmonischer angelegte Klagelied eines selbstmitleidigen Sonderlings, der mit autobiografischer Genauigkeit mehr als 20 Jahre in (selbst gewählter und gepflegter) Einsamkeit verbringen musste, um schließlich Anführer einer Popmusik-Gang zu werden.
Apropos: der Salford Lads Club, vor dem die Band im Innencover posiert, spielt diesbezüglich beim Artwork des Albums eine Hauptrolle. Der Club ist eine typisch englische soziale Einrichtung der Jahrhundertwende, die die Kriminalität in Manchesters Vororten eindämmen sollte, indem sie jugendliche Männer mit Sport und Spiel von der Gewalt auf der Straße fernhielt. Er spiegelt Morrisseys romantische Vorstellung von jugendlichen Straßengangs wieder, die er später als Solokünstler auch noch oft heraufbeschwören wird.
Dennoch wird seither gemutmaßt, die vier schmächtigen Bandmitglieder ließen sich nur deshalb vor dem Club ablichten, um ihre Unterschichtenzugehörigkeit zu unterstreichen und mehr street credibility zu gewinnen - für eine Gang, die sie so nie waren. Mit gewissem Erfolg, denn seither ist der Club neben der Abbey Road in London eine der wichtigsten Pop-Pilgerstätten in Großbritannien und ein Mekka der Fans, die sich dort in ähnlichen Posen fotografieren.
Eine fiktivere Pilgerstätte wird bei "Cemetry Gates" zitiert, wo sich das literarische Alter Ego des Sängers mit seinem Dichterfreund trifft, um sich gegenseitig ihre gestohlene Lyrik vorzutragen. Ein heiter beschwingtes Popstück mit melancholischem Unterton aus Schifferklavier-Folklore, um eine Suche nach dem Poeta Laureatus, dem lorbeergekrönten Meisterdichter. Doch beide Poeten plagiieren ihre Verse, der eine bei John Keats und William Yeats, Morrissey aber bei Oscar Wilde und er scheint deswegen die Nase vorn zu haben. Das Bild mit dem Friedhof zeigt, dass es ihm darum geht, etwas Einzigartiges und Bleibendes zu hinterlassen. Dabei stößt man auf Morrisseys Urangst davor, dass seine Verse von Kennern als lausige Kopie entlarvt werden könnten. Musikalisch gesehen ist Marrs Schrammelgitarre dabei so nah am Schlager, dass man den ernsten Inhalt gerne überhören möchte.
Die Dramatik im Moment des Drehens der Schallplatte auf die B-Seite, wenn Marrs akustische Gitarre das von einem peitschenden Tamburin-Rhythmus getriebene "Bigmouth Strikes Again" einleitet, ist im Zuge des technischen Fortschritts heute kaum mehr zu erklären oder nachzuempfinden. Der Song ist als thematische Fortsetzung des Titeltracks angelegt, wo das genannte Großmaul erstmals zuschlug. Und auch diesmal liegt eine selbstreferenzielle Ode an die Primadonna Morrissey vor. Jetzt im Erwachsenwerden schon weiter fortgeschritten, muss bzw. will er als Folge der Rebellion den Märtyrertod sterben. Um der reinen Geste Willen und zwar auf der Bühne wie auf einem Scheiterhaufen, entflammt von Ruhm und Verehrung.
Die auf die zweite Gitarrenstimme hinzugefügte Rickenbacker, die nach knapp 50 Sekunden erstmals den Refrain mit einem Twang-Riff einleitet, gräbt sich wie ein Brandzeichen in die Seele jedes Hörers ein. Zusammen mit Morrisseys (in den Albumcredits als Ann Coates) gepitchtem Backgroundgesang gerät der Song so zu einer der größten Trademark-Hymnen der Band, die er auf Solotour auch heute noch von seinem Publikum gerne mitsingen lässt. Mit dem Unterschied, dass Jeanne D'Arc jetzt auf dem Scheiterhaufen nicht mehr mit ihrem Walkman verschmilzt, sondern aktualisiert mit ihrem iPod.
"The Boy With The Thorn In His Side" ist ähnlich wie "Cemetry Gates" erneut von einer operettenhaften Ambivalenz geprägt: poetische Schwermut trifft auf heitere Melodie. Das Hauptverdienst und lyrischer Kniff ist dabei die Tatsache, dass das Geschlecht in dieser Liebesgeschichte keine Rolle spielt. Der Sänger kokettiert so mit der Mehrdeutigkeit auch hinsichtlich seiner eigenen sexuellen Orientierung, weil das Hauptthema die Bürde eines bevorstehenden Outings andeuten könnte. Gleichzeitig wäre es aber genauso gut eine einfache, narzisstische Liebeserklärung an sich selbst. Das laszive Falsetto-Jodeln im Ausklang des Mitsingrefrains kaschiert spitzbübisch jede unvorteilhaftere Deutung ihn betreffend.
Auf einem gut abgehangenen Rockabilly-Rhythmus lässt Morrissey einen Pfarrer im Ballettröckchen daher tänzeln. Das böswillige "Vicar In A Tutu" ist eine Abrechnung mit den bigotten Kirchendienern, die sich in katholischen Schuleinrichtungen an Schutzbefohlenen vergehen und dazu verdammt sind, insgeheim ein absonderliches Dasein zu fristen. Obwohl er die Perversion spöttisch in seinen Versen rechtfertigt, sieht sich der Sänger ähnlich wie bei "The Headmaster Ritual" selbst als Opfer der Diener der Anglikanischen Kirche. Sein durch die Schulzeit gestörtes Sozialleben diene als lebender Beweis für deren scheinheilige Untaten.
Überleitend in das tragische Moll von "There Is A Light That Never Goes Out" packt Morrissey in nur wenigen Zeilen einfach alles in einen Song, was einen Halbwüchsigen im ausgehenden 20. Jahrhundert umtreibt. Hedonismus, Loslösung vom Elternhaus, Verzweiflung, die unerfüllte erste Liebe und die daraus zwangsläufig resultierende Todessehnsucht, die durch einen monumentalen Abgang ihre Erfüllung findet. Ihm gelingt es dabei, trotz des schwermütigen Grundtimbres durch seinen expliziten Sprachwitz immer die nötige Ironie zu wahren. Ein zeitloses Liebeslied.
Das Bild vom Doppeldeckerbus, der es als einziger nur durch einen frontalen Zusammenstoß schaffen kann, den verschüchterten Beifahrer mit seiner Chauffeurin physisch und schließlich im Tod zu vereinen, ist dabei von solch authentischer Romantik wie kaum ein anderes Stück Popmusik. Jenseits von jeglichem Kitsch muss so der Verbundstoff klingen, der die Welt aller Träumer in Sturm und Drang zusammenhält oder als akustisches Nervengift in den Suizid führt.
Und obwohl damit bereits alles endgültig gesagt zu sein scheint und man nie mehr einen anderen Popsong hören müsste, lässt der geniale Soundtechniker Stephen Street die Einleitung von "Some Girls Are Bigger Than Others" leicht anschwellen, blendet sie aber sofort wieder aus. Das klingt, als wäre sie so etwas wie die Coda von "There Is A Light That Never Goes Out", oder dessen Zugabe. Eine simple, aber geistreiche Finesse, die noch mehr Akzent auf einen weiteren handfesten Hit legt. Dazu der Einschub der klagenden Geisterstimme nach dem Refrain, die von der angeflehten Person wie im Duett verlangt, ihr jenes Kissen zu schicken, auf dem sie jede Nacht zu träumen pflegt, ist lyrisch wie soundtechnisch an Romantik nicht zu übertreffen.
Damit endet ein Album der Superlative, sowohl ein musikalisches, als auch ein poetisches Monument. Der Beweis dafür, dass die Chemie im Quartett seinerzeit noch stimmte. Ein Höhepunkt, der so auch von Morrissey ohne Marr, Rourke und Joyce nie mehr erreicht wurde. Denn knapp ein Jahr nach dieser Veröffentlichung ist die Gang vom Salford Lads Club Popgeschichte. Sie hinterlässt damit genau das, was als Intention über die Strecke von zehn Songs spürbar ist: etwas Einzigartiges und ewig Bleibendes.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
28 Kommentare
Meilenstein?
Na endlich! @Toriyamafan: Oh, ja, die Platte ist eine Hebamme des Indie Rock und modernen Alternative Rock; zumindest der guten Aspekte davon.
Darüber freue mich! Ein richtig tolles Album, danke dafür; v.a. auch für die schön geschriebene Rezension. Aber ich dachte, bei "The Boy with a thorn in his side" ginge es eher um die Musikindustrie; Mozz meinte dazu doch auch: "No that's not true. The thorn is the music industry and all those people who never believed anything I said, tried to get rid of me and wouldn't play the records. So I think we've reached a stage where we feel: if they don't believe me now, will they ever believe me? What more can a poor boy do?"
Der Grundstein aller `britpop´Stars....und davon gibt es soviel schlechte heutzutage!! There´s a light....
Dieser Kommentar wurde vor 5 Jahren durch den Autor entfernt.
Overrated