12. Februar 2024

"TikTok ist ein zweischneidiges Schwert"

Interview geführt von

Mit "Part Time Believer" melden sich The Strumbellas nach fünf Jahren Schaffenspause zurück.

In einem Teams-Call erzählen uns Violonistin Izzy und Bassist Darryl, wie sie ihren neuen Lead-Sänger Jimmy Chauveau gefunden haben, welchen Einfluss TikTok auf die Musikindustrie hat und wie man als sechsköpfige Band Entscheidungen trifft.

Hi Izzy und Darryl. "Rattlesnake" kam vor fünf Jahren heraus. Wie unterscheidet sich "Part Time Believer" von eurem letzten Album?

Izzy: Unsere aktuelle Platte ist während der Pandemie entstanden. Da hatten wir für die Ideenfindung und das Liederschreiben viel mehr Zeit als sonst. Wir haben über fünfzig Songs geschrieben. Auf das Album haben es dann die Songs geschafft, die uns am meisten bedeuteten.

Es ist bestimmt schwierig, aus so viel Material auszuwählen. Wie habt ihr entschieden, welche Songs auf das Album kommen?

Darryl: Das ist ein sehr geheimes Verfahren, das wir dir nicht verraten können (lacht). Nein ganz im Ernst: Es ist wirklich kompliziert. Wir haben lange gebraucht, um zu entscheiden, welche Songs uns am besten gefallen und diese Auswahl hat sich manchmal nach einem Tag im Tonstudio wieder geändert. Wir haben auch unsere Familie, Freunde und unser Label mit einbezogen und sie um ihr Feedback gebeten. Unser Produzent Ben Allen reduzierte die finale Auswahl schließlich auf zwölf Stücke.

Eure Band besteht aus insgesamt sechs Mitgliedern. Ich kann mir vorstellen, dass da so einige Konflikte entstehen, wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt. Wie ist das, wenn ihr eine Entscheidung treffen müsst? Ist das ein demokratischer Prozess oder gibt es jemanden, der das Sagen hat?

Izzy: Ich denke, es ist größtenteils demokratisch, aber wenn jemand wirklich leidenschaftlich an einer Sache interessiert ist, kann er den Prozess leiten. Wir versuchen, es nicht zu einem strengen Abstimmungssystem zu machen. Wenn jemand sagt: "Leute, ich glaube wirklich an diesen Song", dann kann er uns alle auf seine Seite ziehen. Manchmal braucht es eine Person mit einer Vision, damit der Rest von uns mitzieht.

Gibt es jemanden, der ein bisschen durchsetzungsfähiger ist als die anderen, oder seid ihr alle eher gemäßigt?

Darryl: Das kommt auf den Song an. Ich liebe zum Beispiel "Running Out Of Time". Das war ein Lied, für das ich immer wieder gekämpft habe und das es schließlich auf die Platte geschafft hat. Das ist es, was The Strumbellas so stark macht: All unsere Meinungen und unser Input schaffen diese wirklich einzigartige Dynamik, die man alleine nicht hinbekommt. Wir versuchen, das als Stärke zu begreifen. Wenn nur ich die Songs schreiben und auswählen würde, wäre es alles viel langweiliger.

In der Zeit zwischen euren Alben wurde Simon von Jimmy als Leadsänger abgelöst. Hat das die Dynamik der Gruppe verändert?

Izzy: Ja, Simon ist zwar immer noch am Songwriting beteiligt, aber Jimmy übernimmt jetzt die Rolle des Leadsängers. Er hat eine Menge Positivität und Energie in die Band gebracht. Ich denke, das ist gut für uns. Er ist ambitioniert und begeistert, und das hat der Band etwas neue Energie verliehen. Aber im Großen und Ganzen ist die Band so stark wie eh und je, es hat sich nicht viel geändert.

Darryl: Ja, wir sind immer noch der Hauptkern, der von Anfang an zusammen war. Simon ist ja immer noch dabei. Jimmy hat unser Live-Spiel wirklich aufgepeppt. Wir können es kaum erwarten, mit ihm gemeinsam aufzutreten. Er ist eine Rampensau und gibt wirklich alles. Es ist aufregend, mit ihm zu spielen.

Wie habt ihr ihn gefunden?

Izzy: (Lacht) Das war ein weiterer langer Prozess. Als wir auf der Suche nach einem neuen Sänger waren, haben wir eine Liste mit möglichen Kandidaten gemacht. Und Jimmy war einer der Ersten, die wir gefragt haben. Als wir ihn kennen lernten, war er sofort begeistert. Wir haben auch ein paar Mal gejammt und zusammen abgehangen, denn die gemeinsame Chemie ist genauso wichtig, wie alles andere. Wenn wir so viel Zeit miteinander verbringen, müssen wir uns gut verstehen, denselben Vibe haben und die gleichen Dinge wollen. Im März 2022 kam er dann offiziell zu uns.

Darryl: Wir haben Jimmy durch einen unserer Publizisten kennengelernt. Zunächst hatten wir keine Ahnung, ob er interessiert sein würde. Aber die Sterne standen wohl günstig für uns: Jimmy war irgendwie dazu bestimmt, bei uns zu sein.

Schön, dass es so gut geklappt hat. Die Aufnahme eines neuen Bandmitglieds ist ja immer auch ein Risiko. Apropos - In "Hold Me" singt ihr davon, Risiken einzugehen. Da gibt es diese Zeile "risking it all for love". Wie ist das bei euch? Habt ihr jemals alles für die Liebe riskiert und, wenn ja, wie ist das für euch ausgegangen?

Izzy: Ich glaube, dieser Song drückt für mich eher eine Wunschvorstellung aus. In der Liebe bin ich eher der vorsichtige Typ. Aber ich liebe die Idee, alles für jemanden oder etwas zu riskieren - nicht nur für eine Beziehung, sondern auch für eine Freundschaft oder einen Job oder eine neue Chance. Ich glaube, für mich gilt das im Beruf mehr als in meinen Beziehungen. Wie ist das bei dir, Darryl?

Darryl: Ja, ich glaube, bei mir ist es genauso. "Risking it all" gilt bei mir vor allem für die Dinge und Aktivitäten, die mich begeistern. Aber die Liebe ist für viele Menschen ein schwieriges Spiel. Es ist wirklich schwer, die Liebe zu finden, und dann ist es schwer, sie aufrechtzuerhalten und sie wachsen und gedeihen zu lassen. Wir alle haben den Wunsch und den Traum, diese große Liebesgeschichte zu erleben, und darum geht es in diesem Song. Und es spielt keine Rolle, ob man jung oder alt ist. Die Liebe ist einfach etwas Wunderbares.

"TikTok hat die Musikindustrie verändert"

Lasst uns über euren Track "Holster" sprechen. Da gibt es diesen Satz "Because we all get caught in a holster but it's all in our head". Ich kannte diese Redewendung noch nicht. Was meint ihr damit?

Izzy: Wir mochten, wie dieser Satz klang. Wir haben ihn vorher auch noch nie gehört. Die Idee dahinter ist, dass man sich eine Pistole in einem Halfter vorstellt, und man will auf etwas schießen und versucht, sie herauszuziehen, aber sie bleibt stecken. Der Song handelt von diesem Gefühl, wenn man ein besserer Mensch werden will, an sich selbst arbeiten und seine Träume verwirklichen will, aber man steht sich immer wieder selbst im Weg. Aber man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, sondern immer wieder aufstehen und es erneut versuchen.

Thema Wiederauferstehung: Euer Hit "Spirits" erlebte kürzlich ein Revival auf TikTok. Wie habt ihr diese Entwicklung miterlebt?

Darryl: Wir lieben es zu sehen, was damit passiert ist. Auf TikTok begann er, ein neues Leben zu führen. Es ist schwer zu glauben, denn das ist ein Stück, das wir damals ohne die Unterstützung eines Labels herausgebracht haben. Wir waren uns überhaupt nicht sicher, ob es gut ankommen würde, und einige Leute meinten, dass der Text in der Hook ein bisschen zu viel sei. Es gab all diese Befürchtungen rund um den Song. Nachdem er zum ersten Mal im US-Radio lief, gab es auch einen internationalen Durchbruch und seitdem wächst er immer weiter. Es ist einer dieser Nummern, von denen ich nicht gedacht hätte, dass er das erreichen könnte, was er erreicht hat. Ich hätte eher auf drei oder vier andere auf der Platte getippt, von denen ich gedacht hätte, dass sie Hit-Potential hätten. Aber es ist wirklich eine Ehre, dass "Spirits" weiterhin viele Menschen anspricht und das Bewusstsein für psychische Gesundheit schärft. Von unseren Fans und Leuten im Internet hören wir immer wieder, wie der Song ihnen durch schwere Zeiten geholfen hat. Das ist wirklich unglaublich.

Izzy: Ja, genau. Durch TikTok erreichten wir plötzlich Leute an an Orten, die uns vorher nicht kannten, wie Indien, Indonesien und Japan. Zuerst wussten wir gar nicht, was los war. Das hätten wir in einer Million Jahren nicht erwartet.

Darryl: Und ich würde sehr gerne durch Indien touren.

Izzy: Ja, jetzt haben wir so viele neue Orte, zu denen wir reisen und an denen wir auftreten können!

Benutzt ihr TikTok seitdem auch selber mehr?

Izzy: Ja, auf jeden Fall. Wir versuchen, dort mit den Fans in Kontakt zu treten, Spaß zu haben und unsere alberne Seite zu zeigen.

Darryl: Es ist eine sehr ansprechende Plattform für Künstler und es ist wirklich interessant zu sehen, wie sie sich in einer Weise entwickelt hat, die ich nie für möglich gehalten hätte. Aber es kann auch sehr anstrengend sein. Der Versuch, guten Content zu erstellen, ist harte Arbeit. Izzy ist da unsere Anführerin und hält uns auf Kurs. TikTok ist ziemlich unberechenbar. Wie bei "Spirits": Wir wissen vorher nie, was bei den Leuten ankommt. Manchmal startet ein zufälliges Video total durch und manchmal kreieren wir etwas, von dem wir denken, dass es Gold wert ist und mit Sicherheit viral gehen wird, und dann wird es nur 50 Mal aufgerufen. Das ist ein wenig seltsam.

Die Universal Music Group hat gerade ihren gesamten Katalog von TikTok runtergenommen. Was denkt ihr, wie sich das auf die Musiker auf der Plattform auswirken wird? Seid ihr davon betroffen?

Izzy: Wir sind derzeit nicht bei der UMG, aber ich bin sehr gespannt, wie sich diese Entwicklung auf TikTok auswirken wird. So viele große Stars und Musiker, die ihre Plattform auf TikTok aufgebaut haben, sind bei UMG unter Vertrag, zum Beispiel Noah Kahan.

Darryl: Jetzt, wo so viele andere Songs verschwunden sind, hoffen wir natürlich, dass unsere Musik nachrücken wird. Mach Platz, Taylor Swift!

Hat TikTok die Musikindustrie verändert?

Izzy: Definitiv. Ich denke, das ist ein zweischneidiges Schwert. TikTok ist eine wunderbare Ressource für Musiker, um neue Fans zu erreichen und direkt mit Fans zu interagieren, aber manchmal gibt es auch die Erwartung oder den Wunsch, unbedingt einen viralen Hit zu landen. Und wie Darryl schon sagte, kann man nie wissen, was das sein wird. Noch vor fünf Jahren war die Musikindustrie ganz anders. Das Marketing wird heutzutage von den Künstlern selbst gesteuert.

Darryl: Ja, und um auf Noah Kahan zurückzukommen: 2019 war er unser Support Act. Während der Pandemie haben wir ihn auf TikTok wachsen sehen und er hat dann seine erste Platte herausgebracht. Es ist einfach toll zu sehen, welche Reichweite er auf der ganzen Welt hat und wie TikTok seine Karriere verändert hat. Mittlerweile könnten wir sein Support Act sein. Es ist schon verrückt, das alles in Echtzeit mitzuerleben.

Es klingt so, als ob TikTok den Erfolg einerseits demokratischer macht, so dass es jeder schaffen kann. Andererseits scheint es aber auch so, als ob die Vermarktung jetzt fast vollständig in der Hand des Künstlers liegt, was früher die Aufgabe des Labels war.

Darryl: Ja, man kann sehen, dass nun jeder auf die USPs und die Daten schaut. Die Labels wollen dich nur unter Vertrag nehmen, wenn du auf Social Media durchstartest. Heutzutage geht es weniger darum, Risiken einzugehen und Künstler organisch zu finden und sie beim Wachstum zu fördern. Das ist natürlich eine Veränderung, aber es öffnet auch die Tür für viele Künstler, die wirklich talentiert sind und die jedes Recht haben, sich in der Welt zu behaupten. Diese Möglichkeiten gab es früher nicht.

"Unsere Familie ist unser Zuhause"

"Part Time Believer" ist ein Album voller Kontraste. Ihr verbindet oft Traurigkeit und Freude. Wie kam es dazu? Ist das etwas, das ihr schon immer gemacht habt?

Izzy: Ich denke, diese Kontraste waren schon immer Teil unserer Musik. Schon öfter gab es bei uns traurigere Texte mit fröhlichen Melodien. Zum Beispiel bei "Spirits" und bei "Young And Wild": Diese Songs bringen die Leute zum Tanzen, aber wer sich die Texte genau anhört, merkt, dass sie eigentlich melancholisch sind. Das ist auch auf diesem Album so. Es gibt eine Spannung zwischen diesen beiden Elementen: Dunkelheit und Licht, Glück und Traurigkeit.

Darryl: Auf diesem Album haben wir das Thema Liebe mehr einbezogen als vorher. Denn auch das ist wichtig: Aus der Dunkelheit herauszukommen und mehr Licht im Leben zu finden. In "Part Time Believer" geht es um all die Dinge, die wir selbst durchmachen. Psychische Gesundheit ist für uns ein wirklich großes Thema. Wir versuchen ständig, uns zu verbessern, und diesen Prozess in unserer Musik widerzuspiegeln.

Ihr werdet demnächst auf Tournee gehen. In "My Home Is You" singt ihr davon, dass Zuhause eine Person ist. Ihr seid viel auf Achse. Was bedeutet das Wort "Zuhause" für euch persönlich?

Darryl: Meine drei Kinder und meine Frau sind alles für mich. In unserem Job sind wir viel von unseren Familien getrennt und wir brauchen ihre Unterstützung und Liebe, und das ist, was "Zuhause" für uns bedeutet. Bei ihnen finden wir unseren Rückhalt und unseren Antrieb für das, was wir tun. "My Home is You" spiegelt das wider.

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LAUT.DE-PORTRÄT The Strumbellas

Es ist gar nicht despektierlich gemeint, wenn man festhält: The Strumbellas aus Toronto sind ziemlich exakt die idealtypische kanadische Folkpop-Formation.

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