laut.de-Kritik

Willkommen am "St. Anger"-Karrieretiefpunkt.

Review von

"Diese Geschichte immer mit dem Tiefpunkt und nochmal 'nem Tiefpunkt, dann gibt es noch mal 'nen niedrigeren Tiefpunkt ... ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören, das muss ich ganz ehrlich sagen". Der 6. September 2003 schrieb Fußball- und Fernsehgeschichte. Jeder, auch ich, konnte mit Rudi Völler fühlen und seinen Ausraster nachvollziehen. Doch heute muss ich Gerhard Delling und Günter Netzer in einer Person sein.

Denn ähnlich zu der deutschen Nationalmannschaft kurz nach dem meteorologischen Herbstanfang 2003 steuern Therapy? seit Jahren von einem Tiefpunkt zum nächsten. Aber hier ist kein Özil, kein Müller, kein Götze in Sicht. Die Entwicklung der Band bleibt stetig und andauernd und spätestens mit dem neuen Werk "A Brief Crack Of Light" beängstigend. Was soll als nächstes kommen?

Im selben Jahr wie Rudis Wutanfall fand ein Andy Cairns-Interview mit laut.de statt, in dem er das Fiasko schon heimlich ankündigte. "St. Anger ist seiner Zeit voraus", gab Cairns dort zu Protokoll. Neun Jahre später scheint für ihn und seine zwei Bandkollegen eben jene Epoche angebrochen zu sein, in der das gruselige Sound-Fiasko von Metallica begann. "A Brief Crack Of Light" hätte auch "The Lost Demo Tapes Of St. Anger" heißen können. Blechtrommel, ich hör dir trapsen.

"Plague Bell" bietet nur Krach. Und das im negativen Sinne. Wofür haben Gitarren eigentlich sechs Saiten? Zwei würden für Therapy? sicherlich reichen. Bei "Ghost Trio" sogar eine. So ein hirnloses Geschrammel auf Naturdarm habe ich wirklich selten gehört. Wenn in "Get Your Dead Hand Off My Shoulder" doch mal etwas experimentiert wird und vorhersehbare Pseudo-Dub-Einflüsse aufleuchten, scheitern diese an der Produktion. Dub ohne spürbaren Bass gleich doof und albern.

"Everything under the sun is absurd", singt Andy Cairns in "Ecclesiastes". Singen? Mumpitz! Denn wo bitte ist die Stimme von Cairns hin? Gut, als perfekter Sänger hat er sich noch nie ausgezeichnet, aber das lungenlose Hauchen, nie in der Lage, den Lärm der Instrumente nur ansatzweise zu durchbrechen, verdient nicht die Bezeichnung Sänger. Souffleur wäre vielleicht angebrachter.

Und Gesangsmelodien? So einen Quatsch braucht doch 2012 kein Mensch mehr. Völlig überschätzt. Gefühlte drei Noten reichen Cairns, um das ganze Album zu füllen. Wahrscheinlich reizt er sein Stimmvolumen damit komplett aus. Kein Wunder also, dass das Fast-Instrumental "Marlow" der beste Track bleibt.

Oft will "A Brief Crack Of Light" besonders hart sein, ein Werk, dass sich nicht beim ersten Mal erschließt. Aber egal wie tief man im braunen Dreck des Covers wühlt, es gibt nichts zu finden. Wenn man doch mal was in der Hand hält, hat es die gleiche Farbe.

Selten hat mich eine Platte so fassungslos zurückgelassen. Am schlimmsten bleibt aber die Traurigkeit, hier ein Produkt von der Band in der Hand zu halten, die früher einmal Hymnen am Fließband produziert hat, also wie der DFB einstmals Titel. Vielleicht nicht immer schön, aber meist ganz oben dabei. Darauf ein Weizenbier.

Trackliste

  1. 1. Living In The Shadow Of The Terrible Thing
  2. 2. Plague Bell
  3. 3. Marlow
  4. 4. Before You, With You, After You
  5. 5. The Buzzing
  6. 6. Get Your Dead Hand Off My Shoulder
  7. 7. Ghost Trio
  8. 8. Why Turbulence?
  9. 9. Stark Raving Sane
  10. 10. Ecclesiastes

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38 Kommentare

  • Vor 12 Jahren

    St.Anger ist mein Lieblingsalbum von Metallica.

  • Vor 12 Jahren

    Ich kann diese vernichtende Kritik absolut nicht nachvollziehen. Therapy? werden eben niemals ein "Troublegum 2" schreiben und das ist auch gut so. Das neue Album ist die logische Konsequenz und Weiterentwicklung von "Crooked timber". Hut ab, vor so viel Mut, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten, ohne sich beirren zu lassen.
    Den Vergleich mit "St. Anger" finde ich etwas mühsam, da man beide Bands und beide Alben überhaupt nicht miteinander vergleichen kann. Hört man sich die alten Sachen von Therapy? (vor "Nurse") an, sind diese stilistisch nicht so weit entfernt vom neuen Material. Therapy? wiederholen sich nicht und darüber bin ich heilfroh. Wenn ich will, dass meine Erwartungen erfüllt werden, muss ich Iron Maiden hören, da bekomme ich seit "Number of the beast" immer wieder den gleichen Stoff vorgesetzt. Zugegeben, auf hohem Niveau aber auch berechenbar und mitunter leider auch langweilig.
    Die 3 Jungs aus Irland scheren sich nicht um Erwartungen und machen seit Jahren einfach genau das, was ihnen grade gefällt. Das mag nicht jedem gefallen aber ich finde es herrlich erfrischend.
    Dass Cairns kein toller Sänger ist, ist nicht erst seit diesem Album ein offenenes Geheimnis. Aber hey... das ist Noise-Rock.. wer braucht da einen begnadeten Sänger?
    Für mich sind Therapy? immer noch eine Bank und auch wenn einige Songs recht sperrig und schwer zugänglich sind, klingt alles immer noch unverwechselbar nach Therapy? und dieses Album offenbart seine Stärken erst beim 2. oder 3. Durchlauf. Um das zu erkennen muss man sich eben mit dem Material auseinandersetzen und nicht nur einmal halbherzig "drüberhören".
    Nichts ist langweiliger als ein Album, welches ich mir so nebenher anhören kann und von dem Nichts hängenbleibt...
    Aber am Ende des Tages ist es doch nur wieder Geschmackssache... aber eine solch negative Kritik hat das Album (und die Band) bei Weitem nicht verdient!

  • Vor 12 Jahren

    In Teilen stimme ich dem Rezensenten zu. Die Platte klingt merkwürdig ideenlos und unfertig. Eine Idee, zack, Song fertig. So funktioniert es aber leider nicht. Marlowe gefällt mir auch am besten. Bisher ist das Album für mich die schlechteste Therapy-Platte.
    Lärm machen Therapy allerdings schon seit ihren Anfangstagen. Das hat sich mit den melodiösen Sachen immer die Waage gehalten, bis auf die beiden Alben Troublegum und Infernal Love (die eigentlich nicht repräsentativ für diese Band sind). Das gleiche gilt für das Blech-Schlagzeug, das ist ein uraltes Therapy?-Trademark.
    Negativ erwähnt werden muss auf jeden Fall noch das Cover, das grauenhaft schlecht geworden ist. Ich bin auch irritiert, dass ich überall sonst ausschließlich gute Kritiken über die Platte lese.

  • Vor 12 Jahren

    'zeihung.
    was ich meine: die elektrophase = die ersten beiden ep's, die auf caucasian walk zusammengefasst sind. diese frühe, rohe und für damalige zeiten äusserst heftige krachphase hatte ihnen seinerzeit gut zu gesicht gestanden. nur sind jene lieder eben mit den heutigen songs nicht strukturell isv 'nicht in arrangement, aufbau und produktion' vergleichbar. wohl aber mit dem hungrig suchenden ansatz, den ich seitdem komplett vermist habe. so meine ich das. ich hoffe, es war eine hilfreiche erläuterung.

  • Vor 12 Jahren

    @dein_boeser_Anwalt (« 'zeihung.
    was ich meine: die elektrophase = die ersten beiden ep's, die auf caucasian walk zusammengefasst sind. diese frühe, rohe und für damalige zeiten äusserst heftige krachphase hatte ihnen seinerzeit gut zu gesicht gestanden. nur sind jene lieder eben mit den heutigen songs nicht strukturell isv 'nicht in arrangement, aufbau und produktion' vergleichbar. wohl aber mit dem hungrig suchenden ansatz, den ich seitdem komplett vermist habe. so meine ich das. ich hoffe, es war eine hilfreiche erläuterung. »):

    und wo ist da genau die elektronik? das einzig elektronische, dass ich von therapy? wirklich kenne, sind die kurzen instrumentals auf der infernal love. auf babyteeth und pleasure death ist jedenfalls nichts davon zu finden. das ist größtenteils gitarre, bass, schlagzeug, gesang.

  • Vor 12 Jahren

    Nachdem mir die Scheibe am Anfang ziemlich gut gefallen hat, sind's jetzt nur noch so 6/10 Punkte. Hat sich leider schnell abgehört. Bei Youtube gibt's einen Song von dem Album in Unplugged. Er hat, wovon mir in dem Album ein bisschen fehlt: Wärme.

    http://www.youtube.com/watch?v=6wheaPE9NCk…