laut.de-Kritik

Der Stinkefinger in Richtung Zeitgeist.

Review von

"'Rain Dogs' ist ein Begriff, den ich für jene armen Teufel schrieb, die ohne Heim in den Hauseingängen schlafen. Hunde im Regen verlieren ihren Orientierungssinn, weil das Wasser all ihre Markierungen und Geruchsspuren erbarmungslos hinfort spült. Du siehst diese Gestrandeten nach dem großen Regen überall auf den Straßen, wie sie den Kopf nach dir drehen, und ihre flehenden Augen bitten dich, ihnen den Weg nach Hause zu zeigen. Es ist aussichtslos. Genau wie sie sind all die besungenen Leute auf diesem Album miteinander verbunden. Zusammen genäht von einem Faden aus Schmerz und Unannehmlichkeiten."

So liebevoll und rührend erklärt Tom Waits den Titel seiner Wahnsinnsplatte "Rain Dogs". Ein Album das ich ohne zu zögern nennen würde, weckte man mich des Nachts aus dem Tiefschlaf, um zu fragen: "Welche Scheibe ist für dich die Beste der 80er?"

Dabei ist diese 1985 erschienene LP im Jahrzehnt von Elektrodrums, Synthies und Keytarre ebenso ein Außenseiter wie die Helden seiner Geschichten. Wer sich dieser 19 Streuner-Tracks jedoch mit Herz und Ohr nähert, findet in "Rain Dogs" einen treuen, niemals alternden Freund, der auf ewig einen Ehrenplatz im Plattenregal erobert.

Rein formal betrachtet bildet Waits' achtes Studiowerk den Mittelteil seiner grandiosen Trilogie "Swordfishtrombones"/"Rain Dogs"/"Frank's Wild Years". Wer hingegen einen schärferen Blick riskiert, findet ein bunt geschnürtes Bündel süchtig machender Melodien und Texte, die ohne Netz und doppelten Klangboden vollkommen nackt vor dem Hörer stehen. Texte so abenteuerlich wie Kerouac, so aussichtslos wie Steinbeck, treffen auf eine Musik, die klingt, als hätten Kurt Weill und Howlin' Wolf in wilder Ekstase Tom Waits als nicht nur optischen Hellboy des Blues gezeugt.

Als Storyteller macht er eine blendende Figur. Natürlich ist der Käpt'n im eröffnenden Seemannsgarn "Singapore" ein einarmiger Zwerg, und man muss mindestens einmal durch die Hölle, um zurück zu kehren. "So heave away boys, heave away!" Da kann selbst die von letzter Kohle erstandene Schwarzmarkt-Knarre nicht mehr helfen. "2$ Pistol, but the gun won't shoot!" ("Jockey Full Of Bourbon"). Sogar das süße Lächeln der Mädchen bleibt im Licht schummriger Straßenlaternen eine unter Zentimeter dickem Make-Up verborgene Lüge. "And the girl behind the counter has a tattooed tear / One for every year he's away, she said."

Waits selbst ist dabei als klassischer Geschichtenerzähler meist Beobachter. Im Gegensatz zu Kollegen wie Lou Reed bleibt er emotional gleichwohl nie ganz unbeteiligt, sondern transportiert über die brillante Phrasierung seiner Jazz-geschulten Vocals jene zupackende und mitfühlende Zärtlichkeit, die den Hörer nicht kalt lässt.

Dabei offenbart er ein messerscharfes Auge für Details, (Selbst-)Ironie, absurde Situationskomik und die nie ganz versiegende Hoffnung seiner Steh-Auf-Männchen. "I've seen it all ... I've seen it all through the yellow windows of the evening train."

Musikalisch zaubert Thomas Alan Waits ein Ass nach dem anderen aus dem staubigen Ärmel. Die Kreativität in der Auswahl des Instrumentariums kennt keine Grenzen. Auch hierbei ziehen sich im MTV-gestählten Showbiz sonst eher uncoole Outsider wie Posaune, Akkordeon oder Marimba als roter Faden durch die Lieder. Was nicht passt, wird von den entfesselten Musikern kurzerhand passend gemacht. "Als die Drums uns mit dem rechten Sound im Stich ließen, wuchteten wir einfach eine massive alte Kommode ins Badezimmer und schlugen darauf ein."

Den verdienten Oscar für die beste Nebenrolle erhalten dennoch die beiden höchst gegensätzlichen Gitarreros Marc Ribot und Keith Richards. Ribots einzigartiger Anschlag, den er gern hart mit dem Daumen vollführt, eignet sich perfekt für den flowend-groovy Avantgarde-Stil, der viele leicht an eine L.A.-Version von Brecht/Weill erinnert. Klaren Höhepunkt und Anspieltipp seiner Saitenhexerei bildet das ebenso hypnotische wie twängelige Titelstück. Ribot selbst erklärt den Effekt deutlich nüchterner mit der Tatsache, er spiele rechtshändig, obgleich er eigentlich Linkshänder sei.

Für den sinnlich-warmen Touch gen Blues sorgt der Rolling Stones-Gitarrist. Waits: "Keith ist sehr spontan und bewegt sich im Studio und an der Gitarre so instinktiv wie ein Tier. Vergeblich versuchte ich zunächst, 'Big Black Mariah' verbal zu erklären, bis ich schlussendlich einige Bewegungen und Gesten machte. Da sagte er plötzlich: 'Warum hast dich nicht gleich so bewegt? Jetzt weiß ich sofort, was du meinst!'"

Richards, der auf "Blind Love" auch mitsingt, ist seitdem einer von Toms besten Freunden und schaut bei der einen oder anderen Platte als gern gesehener Gast herein. Waits revanchiert sich und steuert ein paar Monate später Backing Vocals zum Stones-Hit "Harlem Shuffle" ("Dirty Work" 1986) bei.

Trotz all dieser Superlative war die Platte ob ihrer Unkonventionalität damals kein echter Chart-Buster. Das verhinderte schon der Stinkefinger in Richtung des musikalischen Zeitgeistes. Sie etablierte sich eher als Langstreckenläufer. Kollegen wie Rod Stewart ("Downtown Train") oder Bob Seeger ("Blind Love") coverten hingegen gern Tracks dieser LP und machten die Stücke zu Hits.

So leicht es ihnen fiel, sich Waits-Songs zum Interpretieren heraus zu picken, so schwer fällt es, einzelne Juwelen aus diesen bärenstarken knapp 20 Tracks heraus zu stellen. Von "Clap Hands" bis "Tango Til They're Sore" könnte man über jeden einzelnen "Rain Dogs"-Hammer eine seitenlange Lobeshymne verfassen. Alle rufen sie einem zu: "I hide on the stairway. I hang in the curtain. I sleep in your head." Kein Wunder mithin, dass sich Bars, Souvenirläden und sogar eine japanische Bikergang nach dieser Platte benannten.

Ein Lied jedoch ist sogar unter diesen besonderen Perlen ein einzigartiges Kleinod. Die Rede ist von "Downtown Train". Statt der üblichen quietschbunten Effekthascherei der Clips dreht Waits das vielleicht schönste Schwarzweiß-Video überhaupt und kommt damit sogar in die MTV-Rotation.

Das Lied über einen verliebten armen Jungen von der falschen Seite der Stadt, der im Mondschein vergeblich auf eine wohlsituierte Upper-Class-Zicke aus Uptown wartet, wird ein weltweiter Hit, Waits' ewige Visitenkarte und dazu einer der meist gecoverten Songs aller Zeiten. Auch Jahrzehnte nach der Veröffentlichung hat der grandiose Schmachtfetzen nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Noch immer "shining like a new dime!" verzaubert seine Leidenschaft jeden binnen Sekunden.

So stellt sich dem Hörer vor dem heimischen Plattenschrank lebenslang eine einzige Frage immer wieder: "Will I see you tonight on the downtown train?" Oh, ja, Tom. Sehr gern und immer wieder!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Singapore
  2. 2. Clap Hands
  3. 3. Cemetery Polka
  4. 4. Jockey Full Of Bourbon
  5. 5. Tango Till They're Sore
  6. 6. Big Black Mariah
  7. 7. Diamonds & Gold
  8. 8. Hang Down Your Head
  9. 9. Time
  10. 10. Rain Dogs
  11. 11. Midtown
  12. 12. 9th & Hennepin
  13. 13. Gun Street Girl
  14. 14. Union Square
  15. 15. Blind Love
  16. 16. Walking Spanish
  17. 17. Downtown Train
  18. 18. Bride Of Rain Dog
  19. 19. Anywhere I Lay My Head

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