laut.de-Kritik
Hübsche Emo-Moodboards zwischen Resignation und Ermutigung.
Review von Yannik GölzDer erste Eindruck der Mehrheitsgesellschaft von den Twenty One Pilots vor auch schon wieder gut zehn Jahren muss Überraschung gewesen sein. Emo-Kids konnten tatsächlich immer noch Hits schreiben und noch dazu Alben, die so überhaupt nicht traditionell in irgendeine Schublade passen. Ablesbar ist das an den wildesten Genre-Zuschreibungen, die man dem Ohio-Duo seitdem irgendwie an den Leib kleben wollte, die von der Gen Z längst als Linkin Park-Äquivalent abgefeiert wird.
Unser Rezensent stöhnte 2015 über "schon wieder Elektro-Pop, Casio-Reggae und Folk-Punk". Dieser Casio-Reggae, schon wieder, verdammt! Dabei war seine Zuschreibung gar nicht einmal unzutreffend, er verzeihe mir einfach nur ein Schmunzeln über das Beharren auf die Einordnung einer Band, deren erste Musikphilosophie ein flüchtiger Aggregatszustand zu sein scheint. Auch auf diesem Album ist der Versuch von Genre-Zuschreibung ein großer Spaß. Auf "Scaled And Icy" passiert nämlich einiges. Und auch, wenn nicht jedes Experiment aufgeht, macht das Hot-Topic-farbene Sound-Gegrashüpfer von Josh Dun und Tyler Joseph chaotische Freude.
Der Opener "Good Day" klingt mit Klavier und Glitzerhosen-Gesang zum Beispiel nach Showtune und Elton John, so plakativ in Dur-Melodien ertränkt, dass der zynische, düstere Text darauf gar nicht mehr so clever ist, wie er es zu sein glaubt. Huch, da klingt ein Song ganz fröhlich und ist es insgeheim gar nicht? Ja, der Schock, er fällt gar nicht mal so groß aus. Aber die Nummer bleibt nicht die einzige, die ins Musiktheater gepasst hätte, auch "Saturday" oder "Mulberry Street" klingen, als wäre Brendon Urie seinen anstrengendsten Instinkten gefolgt.
Vielleicht ist das insgesamt die Schwachstelle von "Scaled And Icy". Hört man sich ein bisschen in den Tumblr-Gruben ihrer Fangemeinde um, kommen die wildesten Dinge über das Konzept und die Storyline dieses Projekts zum Vorschein. Eine Propaganda-Film-Collage der Bösewichte ihres düsteren letzten Albums "Trench"? Irgendetwas mit einer Stadt, aus der man ausbrechen sollte, weil sie eine Metapher für mentale Krankheit darstellen soll? Pardon, Stans, aber ich höre das nicht. Ich sehe zwar kurze Elemente und holprig eingefranste Querverweise auf eine Welt, die man sich wohl woanders im Voraus hätte anlesen müssen. Aber eine Storyline sucht man hier vergebens. Vielmehr fühlen sich viele Verweise schwerfällig und künstlich ins Gesamtbild eingenäht an.
Am besten funktioniert "Scaled And Icy" dagegen, wenn das Duo einfach Sound-Collagen zusammenbaut. Die Singles "Choker" und "Shy Away" bauen hübsche, elektronisch zusammengeschraubte Emo-Moodboards mit überraschend innovativer Beatarbeit und bespielen sie mit genau den vagen Gedankenfragmenten zwischen Resignation und Ermutigung, die ihr Frühwerk so mitreißend gemacht haben. Auch Songs wie das extrem groovige "Outside" funktionieren auf einer reinen Sound-Ebene, wirklich rührend ist vor allem der sehr unmetaphorische Zuspruchssong "Formidable" für Bandkollege Josh. Ein melodisch wunderbarer kleiner Song, der mit aller Ernsthaftigkeit und Direktheit Anerkennung und freundschaftliche Liebe ausdrückt. Zuckersüß!
Je verkopfter die Ansprüche an die Songs aber werden, desto weniger zünden sie. "No Chances" zum Beispiel wagt den Versuch ambitionierten Erzählens, rekrutiert sich dafür komisch klingende Gang-Vocals als theatralischen Chor und klappt dann völlig unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Auch ein Song wie "Saturday" krankt am selben Symptom wie der Opener: Er gibt sich nicht damit zufrieden, einfach der fröhliche, optimistische Song zu sein, den die Band offensichtlich machen wollte. Stattdessen klingt die ohnehin etwas fad dudelnde Zusammenarbeit mit dem Grammy-verwöhnten Star-Produzenten Greg Kurstin wie ein Nerd, der sich für zu clever für die Party hält.
Als jemand, der selbst oft genug dieser Typ war, hier ein ehrlich gemeinter Rat: Entspannt euch einfach. Denn abseits von ein paar zu verkopften Versuchen, Stories zu erzählen, die lieber Film oder Prosa als Lieder wären, zeigt "Scaled And Icy" vor allem eine Freude am Musikmachen, die begeisternd wenig darauf gibt, in irgendeine Genre- oder Szene-Schublade zu passen. Das Spiel, Vergleichspunkte für die einzelnen Songs zu finden, gebe ich der Arena frei, weil eh jeder etwas anderes heraushören wird. Ich persönlich habe im Gesamtprodukt an die Gorillaz denken müssen, konkreter klang für mich "Never Take It" nach der etwas industrielleren Ecke von Neunziger-Rock, "Formidable" hatte John Lennon-Melodieläufe im Hinterkopf und "Shy Away" übernimmt ein paar Vocal-Riffs von Portisheads "The Rip".
Aber am Ende ist der Versuch, "Scaled And Icy" auf konkrete Einflüsse und Sounds zu reduzieren ein genauso wenig zielführender Zugang zum Album wie der Versuch, auf Biegen und Brechen die vermeintliche Storyline aus irgendwelchen Zwischentönen zusammenzubauen. Das sechste Album der Twenty One Pilots ist ein musikalisch vogelwildes, aber atmosphärisch erstaunlich kohärentes Album, das vielleicht nicht ihr intensivstes geworden ist, aber ein farbenfrohes. Es feiert die Möglichkeiten unserer Zeit ab, dass allen Musiker*innen an jedem Punkt der Karriere der Zugang zu jedem Sound und jedem Genre offen steht. Du hast Bock einen Song zu machen? Du darfst. Also, warum überhaupt noch auf diese Schubladen beharren?
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