laut.de-Kritik

Der Regelbrecher hat seine eigenen Regeln aufgestellt.

Review von

An irgendeinem Punkt ist Tyler The Creator Hip Hops A24 geworden. Vom Edgelord zum Arthouse-Kino; es fühlt sich fast klischeehaft an, das jedes Mal anzumerken. Langsam ist der letzte Rest Überraschung von Tylers Metamorphose verflogen. Stattdessen hat der herausragende Lauf der letzten drei Alben eher die Folge, dass die Messlatte horrend hoch liegt. Ein gutes Album allein tut es nicht mehr. Wenn Tyler veröffentlicht, dann muss es schon bahnbrechend sein, mindestens. Er ist einer der letzten Artists, denen man ohne Not zutraut, die Kultur anzuschieben - und die Szene lässt es ihn wissen.

"Chromakopia" heißt sein neues Projekt, und man spürt, dass er um diese Position weiß. Besser noch, er spielt damit, weil es Spaß machen muss, zu wissen, dass man diese mannshohen Erwartungen erfüllen kann. Wie so oft steht eine zentrale Inspiration über dem Album, und während das letztes Mal noch die Griselda-Gang war, dürfte es dieses Mal Kendricks jüngstes Tape sein. Ja, "Chromokopia" schickt sich an, Tylers "Mr. Morale" zu werden, wie es ausufernd und ungemütlich die eigene Therapiegeschichte aufrollt und Vaterschaft und Männlichkeit ausklambüsern will. Hehre Ziele! Und auch, wenn er viele davon erreicht, bleibt doch zum ersten Mal in einer Weile das Gefühl, dass sich unter dem Druck kleine Risse ins Fundament gefressen haben.

Aber fangen wir mit dem Positiven an: Es ist ein Tyler-Album, dieses Mal komplett selbst produziert - und Tyler-Alben klingen toll. Der alternative R'n'B und Neosoul seiner letzten Projekte bietet weiter die Ausgangsfläche, aber immer wieder werden ein paar drängendere, eklektischere Momente darüber gefranst. Die Musikvideos vorab haben einen ästhetischen Kontrast angedeutet zwischen einem Militär-Drill gegen die verwundbarsten Teile von Tylers Seele. Und auch musikalisch nimmt das Album diesen Kontrast hier und da sehr gelungen mit.

Leadsingle "Noid" flippt eine Vocal-Einlage von Zamrocker Paul Ngozi für einen getriebenen, hektischen Rock-Sound. Das Layering der Stimmen, irgendwo hallt immer eine zu viel durch die Schatten der Backtracks, gegen das unstete, atemlose Zappen der Songstruktur. Es entsteht wirklich ein bisschen Psychothriller-Feel, wenn Tyler davon erzählt, wieviel Mal er seine Türe jeden Tag abschließt. Ansonsten kommen ab und zu Hörner auf ein Links-zwo-drei-vier vorbei, besonders auf der seltsamen Club-Track-Dekonstruktion "Sticky" und dem Quasi-Closer "Balloons". Hier springen auch unangekündigt Sexyy Red, GloRilla, Lil Wayne und eine bärenstarke Doechii mit in den Mix. "Thought I Was Dead" macht Dresche, Rücken an Rücken mit einem gut aufgelegten Schoolboy Q.

Diese aufzwirbelnden Augenblicke der Härte bieten dann den Kontrast zu den overshary-intimen Momenten, die sich wie Kluften zwischen die Banger drängen. Will man der Maske auf dem Albumcover irgendeine Bedeutung zumessen, sollte man sie hier suchen: Das Album scheint fast bipolar hin und her gerissen, ob es Tyler diese Maske der konventionellen Maskulinität nun tragen lassen möchte oder nicht.

Dabei kommen viele der wirklich beeindruckenden Momente gerade dann, wenn Tyler im Neosoul-Songwriter-Modus explizit maskenlos auftritt. Seine Mutter moderiert das Album ja im DJ Drama-Modus - und dabei scheint die Mutter-Sohn-Interaktion überraschend therapeutisch zu wirken. So weit, dass Tyler auf dem besten Song des Albums, "Like Him", über seine ambivalenten Gefühle und Sehnsüchte nach seinem absenten Vater singt, nur damit seine Mutter kurz darauf enthüllt, dass sie ihn aktiv daran gehindert habe, Teil von Tylers Leben zu sein. Harter Tobak, insbesondere, wenn er davor so gespenstisch-schön die Zeile "Mama, I'm chasing a ghost" gesungen hat - und etwas früher selbst noch seine eigene Angst vor Vaterschaft moderiert hat.

Nun könnte man resümieren, dass diese Spaltung zwischen Maske-Tragen und Verwundbar-Sein das Konzept des Albums sei. Es wäre auf jeden Fall keine dumme Annahme. Aber ist das wirklich in diesem Album so gespiegelt? Worum geht es eigentlich auf diesem Tape? Man muss Tyler durchaus die Props geben, dass er sehr gut darin ist, thematische Ideen an verschiedenen Motiven durch das Album zu ziehen. Briefe, Austausche, Geflüster, immer wieder zieht ein späterer Song an einem Gedanken aus dem vorigen, genau wie die Beats teilweise wie verwachsen ineinander übergehen.

Aber doch hat der Therapie-Ansatz vielleicht auch seine Probleme. Wie eine echte Therapie-Sitzung hat das Album keinen Arc und keine Auflösung, stattdessen dreht sich der Protagonist im Kreis, weiß selbst nicht, wo er Bedeutung und Antworten finden kann. "Hey Jane" zum Beispiel erzählt aus zwei Perspektiven die Geschichte eines Pregnancy-Scares, offensichtlich will die Stimmung erwachsen und reflektiert sein, aber irgendetwas in der fast schon überzogenen Einigkeit und Kumbayah-ness der Auseinandersetzungen macht es den Charakteren leichter, als man es erwarten würde. Plus der Tatsache, dass Tyler in der Stimme einer Frau, die ihm erzählt, wie toll er ist, ein kleines bisschen schräg kommt.

Die feministischen Untertöne werden auf "Judge Judy" noch klarer ausformuliert, auch wenn sich hier wieder fragen lässt, ob es jetzt der Gipfel der Allyship ist, diese anscheinend sehr heiße Frau, mit der man gerade schläft, nicht für ihre Horniness zu judgen. Das sollen nicht mal Jabs an die Songs sein, die beide auf ihre Art musikalisch ansprechend und gut komponiert sind. Aber die Art, in der Tyler zwischen Themen und Gedanken springt, sich öfter mal auf eher banalem Erkenntnisgewinn ausruht; es lässt keine Zweifel daran, dass das alles sehr autobiographisch erzählt ist. Aber ebenso, wie eine Therapie-Sitzung nun mal kein Storytelling ist, schwächt das sprunghafte Hin und Her den größeren Kontext und das Pacing.

Vor allem auch in Anbetracht dessen, dass "Chromakopia" das erste Tyler-Album seit einer Weile ist, das sich ästhetisch nicht wie eine Neuerfindung anfühlt. Ja, es sind musikalisch viele starke Ideen hier, aber gerade für die emotional einschlägigen Momente zieht er sich doch eher wieder auf Sounds und Stimmungen zurück, die man seit "Flower Boy" sehr gut von ihm kennt.

Und so ist das vielleicht einfach, wenn man Hip Hops A24 ist: An irgendeinem Punkt haben auch die Regelbrecher ihre eigenen Regeln aufgestellt. Und es macht "Chromakopia" keinen Deut weniger interessant und aufregend, dass es als erstes Album seit vielen Jahren für ihn nicht die nächste maximale schockierende Weiterentwicklung darstellt. Tyler ist zu gut, um ein mittelmäßiges Album zu machen. Aber doch pendelt sich dieses hier gefühlt öfter um einen klanglichen Kompromiss ein und ringt eher angestrengt als lustvoll mit dem eigenen Konzept. Spricht für ihn, dass ein leichter Schritt nach hinten ihn immer noch klar im Rennen um das Album des Jahres hält. Aber im Ranking seiner eigenen Diskographie würde "Chromakopia" wohl auf den ersten Eindruck eher ins Mittelfeld fallen.

Trackliste

  1. 1. St. Chroma
  2. 2. Rah Tah Tah
  3. 3. Noid
  4. 4. Darling, I
  5. 5. Hey Jane
  6. 6. I Killed You
  7. 7. Judge Judy
  8. 8. Sticky
  9. 9. Take Your Mask Off
  10. 10. Tomorrow
  11. 11. Thought I Was Dead
  12. 12. Like Him
  13. 13. Belloon
  14. 14. I Hope You Find Your Way Home

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2 Kommentare

  • Vor einem Tag

    Absolute Zustimmung. Hab eigentlich eigentlich auch nicht wirklich etwas auszusetzen aber soundtechnisch klingt dass doch alles sehr gewohnt. Wie ein Mix der letzten 3 Alben, am ehesten Flower Boy. Hätte eher erwartet dass die teils düstere thematische Grundstimmung auch soundtechnisch stattfindet. Vieles sind dann aber doch weiterhin gewohnte Jazz/Funk Samples. Was ja nicht schlecht ist, dass klingt immer noch extrem gut und macht spaß zu hören. Wünsche mir dennoch das Tyler beim nächsten Album mal wieder einen radikalen Stilwechsel vollzieht. 4/5

  • Vor einem Tag

    Wenn schon Vergleiche mit Mr. Morale angestellt werden, kann ich verstehen, weshalb ich dieses Album eher uninteressant fand.

    Es ist kein schlechtes Album, sogar sehr gut, aber mit den drei Vorgänger-Alben hat er einen Wahnsinns-Run hingelegt, der hier einen kleinen Dämpfer erfährt. Der Grund dafür ist relativ simpel: Er geht hier den sicheren Weg. Mit Flower Boy hat er die Indie-Einflüsse seiner Musik perfektioniert, mit Igor kam mit dem Fokus auf seinem Gesang eine neue Note hinzu und mit CMIYGL legte er mal wieder ein sehr gutes Rap-Album nach.

    Bei Chromakopia fehlte mir die Innovation bzw. das Risiko, die mich bei den anderen Alben catchte. Tyler tut hier das, was er halt immer tut. Er rappt gut, nach ein paar seiner Songs kommen die obligatorischen Rhodes-Solos (die mit diesem Album so langsam alt werden) und ein paar interessante Features sind auch wieder am Start. Er hat das perfekte Album für den Tyler-Superfan kreiert, der das sicher geil findet, weil er es schon immer geil fand. Ich zähle leider nicht zu dieser Gruppe, bei mir gingen die Songs hier rein da raus, keine einzige Nummer ist mir nach zweimaligem Hören wirklich hängengeblieben.