laut.de-Kritik

Geschmacklose Coverversionen, Lullabies und drei gute Stücke.

Review von

Der Song "Energy Follows Thought" vertont Psychologie: Willie Nelson beschreibt, wie alles im Kopf anfängt. Dabei changiert er zwischen Spoken Word und Gesang, mit einer leisen, reduzierten Grundierung an Instrumenten. Ein herausragender Abschnitt auf "A Beautiful Time" - einer der wenigen.

Willie Nelson hat so viele Alben in seinem Leben gemacht (ungefähr 127 inklusive Tour-CDs und Duett-Platten), dass man sich fragt, wo die Produktivität in seinem neunten Lebensjahrzehnt her rührt. Seine neuen Schunkel-Arrangements mit Harmonika kann man als Untermalung eines Senior*innen-Bingo-Abends laufen lassen. Aber woher kommt der Antrieb zu "A Beautiful Time", einer im Titel nach Glückseligkeit, Idylle und Lebensbilanz klingenden CD dieser Musikikone?

Das Werk gibt keine Antwort, woher die Rastlosigkeit kam, oder ich hatte nicht die Sensorik, um sie zu entschlüsseln. Grundsätzlich bin ich für (altbackenen) Country zu haben, saß völlig fasziniert im Juni 2018 bei einem Open Air-Gig von Willies früherem Weggefährten Kris Kristofferson, mit dem zusammen Nelson die Highwaymen formierte und den er 1979 eine ganze Platte lang coverte - für beide eine der erfolgreichsten ihrer Laufbahn. Beiden merkt man ihre Schauspielkarriere im Singen an, enorme Ausdruckspaletten. Wenn sie ihre Stories vortragen, driftet man nicht so schnell ab, bleibt bei der Stange. Das klappt sogar hier - manchmal. Trotzdem: Haften bleibt fast nichts.

Dabei ist "A Beautiful Time" musikalisch allererste Sahne, wenn man eins zu eins, stur und puristisch das hören will, was in den frühen Siebzigern im Genre eingespielt wurde. Dann handelt es sich um eine handwerklich erhabene, bis in den allerfeinsten Schallwellenwinkel ausgefeilte Produktion vorbildlicher Sauberkeit und Exzellenz, alles prima. Einschneidend ist die Platte (nur) rechnerisch, weil sie das Jubiläum '60 Jahre Willie-Debüt' markiert und exakt an seinem 89. Geburtstag erscheint. Und weil sie von den neuen digitalen Raumklang-Formaten 360 Reality Audio (Sony) und Spatial Audio with Dolby Atmos (Apple/Dolby) profitiert, die letztes Jahr auf den Markt kamen und eine super einladende Akustik bieten.

Die Wahl der Stilmittel wirft derweil Hürden auf. Songs, die unplugged sicher toll wären wie etwa "Dreamin' Again", leiden an Reizüberflutung, schaufeln zu viel gleichzeitig übereinander. Hier ein Steel-Gitarren-Twang, dort Mundharmonika, Background-Choräle, diffuses Flamenco-Feeling, E-Klavier, eingestreute Riffs an der Bassgitarre, Gejaule, Gekleister, Intimität, ein zu viel an Gefühligkeit und Sprunghaftigkeit in den Arrangements. Die meisten Nummern fassen sich wie eine Pizza an, auf der 20 Zutaten drauf sind, so dass die Hälfte beim Anfassen runter purzelt und die andere Hälfte den Teig durchfeuchtet. Man kann diese Stücke nicht greifen, sondern entweder ertragen oder demütig mitschunkeln.

Die wesentlichen Tracks sind das ruhige "Energy Follows Thought" und der rockige Stomper "I Don't Go To Funerals", in dem Willie die anderen Highwaymen Kris, John (R.I.P.) und Waylon (R.I.P.) würdigt, und "our sweetheart Patsy Cline", ein berückendes Stück übers Altern, wenn manche der Gleichaltrigen abdanken und man sich fragt, wie lange man selbst noch übrig bleiben wird. Es mag Aberglaube sein, aber der 89-Jährige weigert sich, an Beerdigungen teilzunehmen, bis seine eigene dran ist. Die titelgebende Ballade "A Beautiful Time" ist einfach schön, frei nach dem geheimnisvollen Seal-"Kiss-From-A-Rose"-Prinzip: Es gibt Soft-Balladen, die funktionieren und fließen einfach, auch wenn sie flach und vorhersehbar sind.

Daneben bietet die CD mehrere Schlaflieder und zwei unnötige Cover von allzu oft recycelten Songs, mit denen man sich nur lächerlich machen kann: "Tower Of Song" von Leonard Cohen (wie auch dessen gesamtes I'm Your Man"-Album) ist für mich eines der größten Heiligtümer der Musikgeschichte. Irgendwo im Olymp zwischen Ravels "Boléro" und Puccini-Opern, jedenfalls was ganz Großes, das man nicht covern oder interpretieren sollte, wenn man nichts zu sagen hat.

Der Willie hat natürlich alle Berechtigung, diese Nummer mal ganz aufs darin mit verhandelte Stichwort 'Hank Williams' zuzuschneiden, eines seiner Lieblings-Themen. Der nachdenkliche Instrumental-Mittelteil wirkt sogar ein bisschen innovativ. Aber Nelson betont die Schlüsselzeilen des Songs nicht, nuschelt sie nebenbei herunter ("you can say that I've grown bitter"). Den C-Teil verkitscht er, seine Band spielt ihn lauter, was das Lied entehrt. Alle Cohen-Songs der '88er-LP zeichnen sich durch ihre stoische Gleichmütigkeit, das Sich-Verwehren gegen Pathos und ungeschriebene Pop-Gesetze aus. Das Recording und auch die dahinter stehende Intention, sich den alten Track unter den Nagel zu reißen, ohne ein bisschen Gespür, worum es geht, werten einen ziemlich lahmen, mediokren Release weiter ab.

Der auf der Rückseite der CD-Verpackung tänzelnde Senior macht alles falsch: Er taucht den Track in ein voluminöses, üppiges, mitunter hartes, unentschlossen exotisch-urlaubsmäßiges Arrangement, das allenfalls als kurzer Gag okay wäre. Der atmosphärische Eindruck vom belanglosen Beinebaumeln am Ufer Hawaiis überspült die Geschichte im Songtext rabiat. Die Begleitband lässt die Steel Guitar jaulen, Nelson kommt aber stimmlich nicht hinterher und trifft nicht so recht die Töne, die musiziert werden - oder umgekehrt. Die dominante Mundharmonika zerstört jede Stimmung, und das Ensemble macht einen disharmonischen, unruhigen Eindruck. Die Aufführung wirkt bizarr und so, als hätten weder der Chef noch irgendeiner der Studiomusiker die Cohen-Platte je gehört.

In "Tower Of Song" richtet sich der einsame Wolf Cohen auf dem Gipfel seiner Alkoholkrise (Kontext zum LP-Track davor, "I Can't Forget" - "I can't forget, but I don't remember what") an den am Alkohol und Morphium zerbrochenen und mit 29 aus dem Leben geschiedenen Hank Williams und dessen Kanal, die Musik, in der man sich zwar emotional ausdrücken kann, aber im Schreibprozess doch in einem entrückten Turm thront. Cohen beschreibt sich mit grauen Haaren, seinerzeit 54, vom Leben gezeichnet und doch noch dabei. Die Musik ist das höchste im Leben, ihren Wert an sich, ihr Überdauern feiert das Stück mit einem Call-and-Response-Arrangement, welches Willie Nelson einfach löscht.

Ähnlich derb: Die Neueinspielung von "With A Little Help From My Friends" schlägt vom ersten Ton an in die Flucht. Gesanglich ungefähr zwei Prozent der Intensität von Joe Cocker. Der bebte, zitterte. Und angesichts vieler edler Interpretationen liegt die Latte hoch. Die neue Version klingt nicht nach einer "Beautiful Time" und nicht nach Hilfe von Freunden (help from my friends), sondern hilflos, schmierig, nach einer Themenverfehlung und so schaurig primitiv, dass die meisten lokalen Kirchweih-Cover-Bands mehr rausholen würden. Diese Country-Version braucht es nicht, gleichwohl der Triller in "nee-e-e-ed" (don't you need anybody) eine reife Gesangsleistung des greisenhaften Routiniers und ein singulär guter Moment in der grausigen Fassung ist.

Sich an Musik außerhalb des eigenen Genres funktional zu bedienen, wie es einem in den Kram passt, reißt nicht mit. Es bleibt kein guter Nachgeschmack nach dem Hören dieser Platte. Mit der Outlaw-Attitüde, für die man den Texaner schätzt, und mit seiner gepriesenen Gitarrenarbeit, hat das alles hier wenig zu tun.

Trackliste

  1. 1. I'll Love You Till The Day I Die
  2. 2. My Heart Was A Dancer
  3. 3. Energy Follows Thought
  4. 4. Dreamin' Again
  5. 5. I Don't Go To Funerals
  6. 6. A Beautiful Time
  7. 7. We're Not Happy (Till You're Not Happy)
  8. 8. Dusty Bottles
  9. 9. Me And My Partner
  10. 10. Tower Of Song
  11. 11. Live Every Day
  12. 12. Don't Touch Me There
  13. 13. With A Little Help From My Friends
  14. 14. Leave You With A Smile

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