laut.de-Kritik

Die dunkle Seite von "Amélies Welt".

Review von

Mit "Portrait" liefert Yann Tiersen seinen Beitrag im Reigen der Veröffentlichungen von Werkschauen zum Jahresende. Dabei erklärt er den Namen des Albums zum Programm. Für seine Retrospektive überdenkt er das Konzept eines Best-Of-Albums und porträtiert insgesamt 25 Songs aus allen Perioden seiner Karriere in neu arrangierten, komplett live interpretierten und vollständig analog eingespielten Versionen. Hinzu kommen drei komplett neue Tracks.

Die Idee zu "Portrait" entstand während der Proben zur Tour für seine im Februar dieses Jahres veröffentlichte Platte "All", die er im eigenen, komplett auf analoge Aufnahmetechnik ausgelegten The Eskal-Studio auf der kleinen französischen Insel Ouessant im Osten der Keltischen See vor der bretonischen Küste einspielte. Hier setzte er die mit "All" begonnene Arbeit fort und kleidete die Tracks auf "Portrait" in ein reduzierteres Klanggewand, um ihre Essenz mit illustren Gastmusiker*innen herauszuarbeiten.

Gleichzeitig räumt er auch mit einigen Missverständnissen der Vergangenheit auf. Das betrifft in erster Linie die Stücke aus dem Soundtrack zu "Die fabelhafte Welt der Amélie", mit denen er zwar internationale Bekanntheit erlangte, die er aber seit über zehn Jahren nicht mehr live aufführt. Denn der große Erfolg des Films riss diese Stücke aus ihrem eigentlichen Kontext heraus, verfremdete ihre Wahrnehmung und verknüpfte sie, auch für Tiersen selbst, unumkehrbar mit der romantischen Tragikomödie. Zeit also für einen Heilungsprozess zumindest bei zwei Songs des Soundtracks, deren scheinbar romantische Wirkung für den Komponisten "immer schon eine Verschleierung oder eine Reaktion auf ihre dunkle Seite war."

Besonders gut kommt dies in "La Dispute" zum Tragen. Gegensätzlich zur Verwendung im Film ist die Nummer so gar nicht als Klangkulisse für ein Date gedacht, sondern als Abbild von "extreme[r] Gewalt, Blut, Tod und des seltsamen Schockzustands in den unmittelbaren Momenten nach einem schrecklichen Erlebnis." Anno 2019 erklingt die unverkennbare Melodie dieses dunklen Songs zunächst mit einer zerbrechlichen Melodica. Das dominante Klavier folgt erst nach der Hälfte der Spielzeit. Dieser Gegensatz erzeugt eine eindringlich intensive und tief bewegende Stimmung, die das Original vergessen macht.

Auch "Comptine D'Un Autre Été (L'Après-Midi)" profitiert enorm von der Neueinspielung. Die Änderungen betreffen vor allem die Klangfarbe des Stückes. Das Klavier klingt, aufgrund der analogen Aufnahme, um so vieles wärmer, organischer und persönlicher als im steril wirkenden, digital aufgenommenen Original. Dabei wirkt alles so unaufdringlich nah, als höre man das Stück im Studio stehend. Besonders gut kommt dies in den in rasantem Tempo gespielten gebrochenen Dreiklängen nach der Vorstellung der Hauptthemen zum Tragen, die die Dramatik und Melancholie des Songs hervorragend untermalen.

Das gilt auch für "The Wire (Sur Le Fil)", bei dem Tiersen die Instrumentierung vollständig ändert und anstatt eines Klavieres eine Violine benutzt. Allgemein profitieren aber auch andere Klaviersongs der Platte wie "Porz Goret", "The Long Road (La Longue Route)", das energisch-trotzige "The Old Man Still Wants It" und das getragene "Naval" vom analogen Klangbild. Wer diese neuen Versionen einmal gehört hat, der will auch hier die alten nicht mehr hören. Besonders beachtenswert von all den auf Tasteninstrumenten gespielten Songs: Das barockesque Cembalostück "The Jetty", das vor allem von Tiersens prächtig gesetztem Bassspiel profitiert und mitreißend mächtig wirkt.

Einen wichtigen und überraschenden Beitrag zu den Neuinterpretationen liefern die Gastmusiker auf "Portrait". Wer hätte im Traum daran gedacht, dass Tiersen seine Grenzen derart erweitert und eine Kollaboration mit Sunn O)))-Klangdruide Stephen O'Malley eingeht? Was sich zunächst ungewöhnlich anhört, passt in "Introductory Movement" jedoch außergewöhnlich gut zusammen. O'Malleys heftig verzerrte Drones und seine splitternden Klangeffekte, die hier als Farbtupfer in einem überaus komplexen Stück fungieren, ergänzen sich trotz scheinbarer Gegensätzlichkeit zu einer erhebenden Meditation, die in einem meisterhaft silbrigen Cembalo-Part kulminiert. Dieses Spiel setzen die beiden mit überwältigender Sensitivität im überaus minimalistischen "Prad" fort.

Natürlich finden sich auch Klassiker wie das von ursprünglich von Dominique A gesungene und jetzt von Super Furry Animals-Frontmann Gruff Rhys stimmlich sehr folkig veredelte "Monochrome" auf "Portrait". Wie die meisten Neuinterpretationen des Albums profitiert auch "Rue Des Cascades" enorm von seinem neuen Arrangement. Das Cemablo des Originals und der seltsam unphrasierte Gesang von Claire Pichet weichen 2019 einem berührend warmen Klavier und der fülligen Stimme von Ólavur Jákupsson.

Auch Tiersens Frau Emilie wirkt auf dem Album mit und verzaubert vor allem in "Gwennilied" mit ihrem mystischen, elfenhaften Gesang, mit dem sie über einem sehr lange anhaltenden, monolithischen Drone überaus phantastische Bilder ferner Welten und keltischer Riten evoziert. Im brandneuen "Diouz An Noz" brilliert sie stimmlich im Duett mit Ólavur Jákupsson. Die Gegensätze der Stimmen der beiden ergänzen sich harmonisch bestens über einer für Tiersen typisch arpeggierten Klavierlinie, durch dessen Zwischenräume die Klänge eines fragilen Theremins schweben.

Auch die beiden anderen neuen Tracks stechen klanglich aus dem Gesamtbild des Albums hervor. Das gemeinsam mit den zwischen Indie, Alternative und Dream Pop pendelden Blonde Redhead aufgenommene "Closer" überzeugt mit sphärischem Gesang sowie einem kammermusikartig arrangierten Streicherspiel und erinnert an die isländischen Kollegen von Sigur Rós. Da Blonde Redhead aufgrund logistischer Schwierigkeiten nicht selbst im Studio anwesend sein konnten, sind ihre Beiträge die einzigen auf "Portrait", die extern angefertigt und von Tiersen nachträglich eingefügt wurden.

In "Thinking Like A Mountain" entwickelt Tiersen mit Stephen O'Malley, dem Singer-Songwriter sowie ehemaligen The Czars-Mitglied John Grant und Melanie Knott über einem als Spoken Word-Part dargebotenen Ausschnitt aus Aldo Leopolds "A Sand County Almanac" ein faszinierend beschwingtes, zum Teil jahrmarktartig pulsierendes Klanggebräu aus Orgel, Glockenspiel und Streichern. Die Spoken Word-Parts erinnern dabei fast unausweichlich an das ebenfalls großartige, gesprochene "The Seahorse Rears To Oblivion" von Current 93.

Yann Tiersen liefert mit "Portrait" mehr als nur eine Ansammlung verschiedener Songs unter dem Greatest Hits-Banner. Die neuen und zum Teil sehr persönlichen Arrangements in Verbindung mit ihren organisch atmenden Interpretationen erheben diese Collage zu einem Schlüsselwerk in der Diskographie Tiersens, da die Platte aufgrund ihres dramaturgischen Konzeptes auch hervorragend als Ganzes funktioniert. Das macht "Portrait" zu einem Album für entspannte Winterabende am knisternden Kaminfeuer mit einem Glas trockenen Rotwein. Ganz groß!

Trackliste

  1. 1. Introductory Movement
  2. 2. The Long Road (La Longue Route)
  3. 3. Monochrome
  4. 4. Chapter 19
  5. 5. Rue Des Cascades
  6. 6. The Old Man Still Wants It
  7. 7. Gwennilied
  8. 8. Prad
  9. 9. Diouz An Noz
  10. 10. Porz Goret
  11. 11. La Dispute
  12. 12. Pell
  13. 13. Erc'h
  14. 14. The Wire (Sur Le Fil)
  15. 15. The Waltz Of Monsters
  16. 16. Closer
  17. 17. Naval
  18. 18. The Jetty
  19. 19. Koad
  20. 20. Prayer No. 2
  21. 21. Grønjørð
  22. 22. Kala
  23. 23. Comptine D'Un Autre Été (L'Après-Midi)
  24. 24. Tempelhof (Part 2)
  25. 25. Thinking Like A Mountain

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