laut.de-Kritik
Erfahrungen und Gefühle tief aus der LGBT-Seele.
Review von Sven KabelitzDie Videos zu "Sanctify" und "If You're Over Me" geben das Setting für den zweiten Years & Years-Longplayer vor, das angebliche Konzeptalbum "Palo Santo". Wir befinden uns mitten in einer Parallelwelt, in der es Androiden nach Emotionen hungert und Sänger Olly Alexander als einer der letzten Menschen dieses Verlangen stillen soll. Im Grunde ein interessanter Grundgedanke, auf dem sich aufbauen lässt.
Die Umsetzung geht jedoch abseits der visuellen Umsetzung komplett in die Binsen. Ohne das Vorabwissen erfährt man aus den Texten nichts. Vielmehr wirkt es, als wolle Alexander seinen Songs durch diesen hochtrabenden Überbau eine erzwungene Tiefe verleihen, über den Textbausteine wie "Just one look at you / My heart has been hypnotised" ("Hypnotised") schlichtweg nicht verfügen. So stellt der Grundgedanke plötzlich unangenehmes Gepose dar, das an den eigenen Fähigkeiten scheitert.
Dabei hat Alexander dies gar nicht nötig. Zwar bleibt die Hälfte der Lieder vage, in der anderen hat er jedoch durchaus etwas zu erzählen. Nur eben nicht die Geschichte, die er offiziell vorgibt. Stattdessen finden sich auf "Palo Santo", das mit den Worten "When I pray" beginnt, Storys über Erfahrungen und Gefühle tief aus der LGBT-Seele, in denen der Glaube und die Kirche den Gegenspieler gibt, von dessen Regeln sich der Hauptakteur befreit: "Father, forgive me for finding the truth" ("Sanctify"). Mal geht es schlicht um die gar nicht so triviale Liebe und die Facetten, die Ängste und die Verletzlichkeit, die sich aus ihr ergeben, dann wieder um den schmalen Grad zwischen Hetero- und Bisexualität.
Im "Sanctify" gelingt das Spiel wohl am geschicktesten: "You don't have to be straight with me / I see what's underneath your mask", erklärt der Sänger dem Mann, der sich doch eben noch so selbstverständlich als Hetero sah. All dies in einen eingängigen Pop-Song verpackt, zu dem sich der gemeine Eiweißpulverschlucker im Studio seine Muckis buildet. Perfide, Olly Alexander.
Dafür geben sich Years & Years jedoch selbst auf. Im Grunde handelt es sich bei "Palo Santo" um Alexanders erstes Soloalbum. Michael Goldsworthy und Emre Turkmen verkümmern zu Statisten. Waren sie beim Debüt "Communion" noch bei jedem Song inklusive des Hits "King" beteiligt, finden sie hier nur noch unter ferner liefen statt. An ihre Stelle treten die Auftragsarbeiten der üblichen Verdächtigen Kid Harpoon (Florence + The Machine, Haim), Greg Kurstin (Adele, Sia), Julia Michaels (Selena Gomez, Justin Bieber), Justin Tranter (Britney Spears, Kelly Clarkson), Mark Ralph (Usher, Plan B), Steve Mac (Pink, Ed Sheeran), die dem Longplayer Beliebigkeit verleihen. Dies ergibt guten Pop, aber keinen in sich geschlossenen Longplayer, was den Gedanken des Konzeptalbums ein weites mal ad absurdum führt. "Palo Santo" ist eine lose zusammengefügte Singles-Ansammlung.
An "Hallelujah", das mit den Zeilen "13 days since / You left me wondering what it all meant / Was I just something for the moment?" wie eine direkte "Sanctify"-Fortsetzung wirkt, schusterten fünf verschiedene Autoren herum. Die Erlösung aus dem Schmerz sucht Alexander im Tanz und heißem Flirt. "I wanna dance 'til I speed up the healing / Get up, show you what I find / Somebody like you." Die cheesy Ibiza-Disco-Umgebung des Tracks liefert für das Unterfangen die perfekte Umgebung.
"Karma" wirkt wie ein Mash-Up aus Timberlakes "Senorita" und Lauryn Hills "Everything Is Everything". Gerade beim letzteren bediente man sich mehr als deutlich. Die gelungene Ballade "Hypnotised", die dank ihres zurückhaltenden Arrangements zu den intimsten Momenten zählt, umweht hingegen der Geist von East 17s "It's Alright". Die Älteren werden sich erinnern.
Das nach einem aus Peru und Ecuador stammenden "Heiligen Holz" benannte Titelstück "Palo Santo" rettet dank Piano und dunklen Beats die offenherzige Verruchtheit der Alexander-Texte in die Musik hinüber. "There's a mark on my skin / Make you hot with shame / 'Cause I'm in love with the sin / And I know to take the blame." In "Preacher" spricht der Sänger seinem Liebhaber Mut zu, endlich offen mit seiner Sexualität umzugehen.
Das gelungenste Stück befindet sich jedoch ausgerechnet unter den drei Bonus-Tracks. Im mitreißenden und die 1980er umarmenden "Up In Flames" beweisen Olly Alexander und Greg Kurstin, dass sie "Please" von den Pet Shop Boys mehr als einmal gehört haben und mischen diesen Sound nun mit einem Funken R'n'B.
Bedenkt man die Zielsetzung und Visualisierung des Longplayers, wirkt Olly Alexander seiner eigenen Musik seltsam entwachsen. "Palo Santo" bleibt ein gutes, wenn auch nicht berauschendes Pop-Album, das über weite Strecken hinter seinen Möglichkeiten bleibt.
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