11. Oktober 2021

"Die Nacht ballert dich mal aus der Bahn"

Interview geführt von

Vier Jahre nach seiner Begegnung mit dem Extraterrestrischen in "Roswell" hat Materia neue Energie getankt, um in der "5. Dimension" dem schnöden Alltag zu entkommen.

Freedom Day oder Winterwelle? Wie im Schwebezustand blickt die Welt auf die kommenden und im besten Fall letzten Monate der unendlichen Geschichte Corona-Pandemie. Marteria bleibt trotz aller Krisen optimistisch. "Wenn uns hier alles um die Ohren fliegt", rappt er in seiner ersten Single-Auskopplung standhaft aus dem Auge des Orkans, "steh' ich vor dir wie Granit – niemand hier bringt Marten um." Dabei hat ihm die erste Pandemie-Welle einen unfreiwilligen Aufenthalt auf Barbados beschert, der sich über Monate zog.

Zumindest fand er auf der Karibikinsel die Muße, um an seinem neuen Album zu arbeiten. "5. Dimension" handele von "grellen Verheißungen und finsteren Abgründen", verspricht der Pressetext. Es sei "rough, doll, vielschichtig, einprägsam, radikal persönlich, ehrlich und echt wie die Stunden, bis die Wolken wieder lila sind." Mitte August spricht der Überlebenskünstler im telefonischen Interview über erhabene Gefühle im Nachtleben, die Lächerlichkeit einer Fußball-Weltmeisterschaft in Katar und seine überstürzte Abreise aus Venezuela, als der erste Lockdown drohte.

Du warst Anfang 2020 auf Reisen unter anderem durch Peru und Venezuela, als die Pandemie langsam anrollte. Schließlich bist du in Barbados gestrandet. Wie ist das abgelaufen?

Ich war mit Freunden zum Angeln in Caracas, als der Lockdown wegen Corona losging. Venezuela steht weltpolitisch nicht gerade ganz weit oben, sondern eher unten. Es herrscht absolute Inflation im Land und es gibt keine Wasserversorgung. Sehr gefährlich ist es auch. Mit einer Cessna, dem letzten Flugzeug, das da herumstand, bin ich weggekommen, was ein absoluter Glücksfall war, sonst hätte ich ein Jahr in Venezuela sein müssen, weil gar nichts mehr ging. Das wäre sehr kompliziert geworden. [lacht] Dann war ich vier Monate auf Barbados, weil auch da der Lockdown losging. Das klingt so schön und toll. Es ist ja auch eine sehr schöne Insel mit tollen Menschen. Aber auf der anderen Seite habe ich auch meinen Sohn noch hier. Und die Ungewissheit, wann ich wieder wegkomme. Damit musste ich dann erstmal klarkommen, meine Gedanken ordnen und vor allem die Situation annehmen und mit ihr gut umgehen.

Hast du sie denn schnell für dich angenommen oder hast du versucht, bei den Behörden zu forcieren, dass sie dich rausholen?

Nein, bei den Behörden kann man nichts forcieren. Ich habe nicht Heiko Maas angerufen und gesagt: 'Ey, schick mir mal so'n Rettungsflieger.' Es gibt ja viele Leute, die auf dem Weg gestrandet waren. Ich war halt einer von denen. Wenn du etwas versucht hast, haben sie dich eher ausgelacht. Ich habe die Situation angenommen und damit angefangen, Musik zu schreiben und darüber nachzudenken, in welche Richtung die Platte gehen soll. Das habe ich eigentlich mein Leben lang schon so gemacht. Ich brauche das Reisen und die Veränderung. Wenn man alleine an einem Ort ist, ist das gar nicht so schlecht, weil man sich den Kopf frei machen und einen Spirit aufbauen kann. Ich bin auch kein Künstler, der altes, erfolgreiches Zeug neu aufwärmt und verwaltet, sondern versuche, immer einen neuen Vibe zu kreieren. Der hat nichts mit dem Ort zu tun. Barbados wäre jetzt eher so Reggae und Raggaeton. Die Platte ist auf keinen Fall so.

Wie wird sich das Reisen oder der Tourismus durch die Pandemie verändern? Welchen Eindruck hast du bisher?

Oh Gott, ich weiß es nicht. Auf der einen Seite war es ziemlich gut, dass mal nicht so viel auf der Welt herumgeflogen wurde. Es ist ja immer ein Hin und Her. Aber das Fliegen ist auch eine Errungenschaft und eines der tollsten Dinge, die die Menschheit auf dem Buckel hat. Man darf nicht unterschätzen, wie wichtig Reisen für seine persönliche Entwicklung und das eigene Bewusstsein sind. Es ist ja total anti-engstirnig, sich andere Kulturen anzugucken. Wahrscheinlich wird es aber mehr Leute geben, die Angst haben, was nicht schön ist. Man sollte das Leben in vollen Zügen genießen...oder in vollen Flugzeugen! [lacht]

Schon vor einigen Jahren hast du im Song "Kids (2 Finger an den Kopf)" eine Gesellschaft beschrieben, die biederer wird. Sorgst du dich, dass sich der Horizont der Menschen in den nächsten Jahren eher noch verkleinert?

Ich bin nicht Nostradamus und weiß nicht, wie sich Menschen verändern. Ich lebe im Hier und Jetzt und versuche, auf eine ehrliche Art und Weise Musik zu machen. Es ist sehr wichtig, dass man mit seinen Schwächen umgeht und nicht immer versucht, der Geilste, der Größte, der Stärkste zu sein. Dann geht's nicht darum, wer die meiste Kohle hat und wer das geilste Auto fährt. Es ist immer das Beste, seinen Platz in dieser Gesellschaft zu finden, indem man einfach man selber ist. Eine Gesellschaft funktioniert, wenn sich die Menschen akzeptieren und respektieren. Das ist viel wichtiger als alles andere.

"Es ist ein absoluter Witz, eine Fußball-WM in Katar auszutragen."

In deiner ersten neuen Single "Niemand Hier Bringt Marten Um" reflektierst du das letzte Jahr. "Alle vor Angst erstarrt", aber "niemand hier bringt Marten um". Relativierst du damit die Krisen? Nach dem Motto: Wird schon irgendwie gutgehen.

Ich relativiere damit erstmal gar nichts. Gerade als Musiker ist das schon einfach nicht geil. Sehr viele meiner Freunde sind durch die Corona-Krise wirklich am Arsch. Ich spreche das Corona-Ding mit diesem Song auch an, aber es ist schon einfach wichtig, trotzdem positiv zu sein. Daran ist ja nichts Falsches. Ich kann nur das Statement setzen, wie ich am besten mit Situationsveränderungen auf der Welt klarkomme. Ich glaube, das ist der richtige Weg, den ich einschlage. Es bringt nichts, wenn die Leute immer depressiver werden und alles negativ sehen. Das ist immer der Anfang vom Ende. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen gibt es im Moment und das ist sehr gefährlich. Man muss etwas finden, was Leute wieder zusammenbringt – am besten eine Fußball-WM! [Lachen]

Wie fandst du denn die diesjährige Fußball-Europameisterschaft?

Ach, gab es die? Stimmt, die gab's. Habe ich schon vergessen, weil ich nämlich Olympia-Fan bin. Ich gucke da wirklich alles. Ich bin Fan von meinem Fußball-Verein Hansa Rostock, aber alles andere interessiert mich nicht so wirklich. Es ist ein sehr merkwürdiges Geschäft. Es riecht nur so nach Manipulation, nach Geld und komischen Leuten. Ich mag Sportler, die irgendeinen Sport treiben wie Kanufahren und dann dafür fünf Jahre ackern. Die Emotionen, die man sieht, wenn eine Medaille bei Olympia gewonnen wird, ist einfach so viel größer und toller. Fußball ist ein wunderschöner Sport, aber er ist leider vom Geld kaputtgemacht worden. Dass so viele Spieler bei Olympia für Deutschland abgesagt haben, ist eine absolute Frechheit. Da ist mir der Sportsgeist total abhanden gekommen. Deswegen interessiert mich das alles nicht so. Mich interessiert nur Hansa Rostock.

Wäre es dir auch egal, wenn man die WM in Katar absagt?

Ich wäre absolut dafür, sie abzusagen. Es ist ein absoluter Witz, eine Fußball-WM in Katar auszutragen. Einer der größten Witze, die es jemals in der Fußball-Welt gab. Das Geld spielt einfach eine unfassbar wichtige Rolle. Einfach um ein bisschen Spaß zu haben und die Leute abzulenken. Viele Leute hinterfragen das nicht. Klar, es kommt darauf an, wie doll man sich dafür interessiert und wie viele Berichte man sich darüber anguckt, wie menschenunwürdig es ist, diese WM auszutragen.

Du hast im Pressetext über das Album gesagt: "Jeder Song ist etwas ganz Besonderes für mich. Es ist, als hätte ich mich selbst wieder gefunden." Wo, wann und wie hast du dich denn verloren?

Ich glaube, das Wiederfinden hat nicht immer etwas mit einem Verlieren zu tun. Es ist halt ein anderer, sehr elektronischer, tanzlastiger Style mit tollen Produzenten wie DJ Koze und Siriusmo. Das sind Menschen, die ich sehr liebe und die weltweit ihren Ruf haben. Ich bin sehr stolz, meine Lieblingsmusiker als Produzenten dabei zu haben. Und gleichzeitig habe ich auch immer so ein Rave-Herz gehabt. Meine Lieblingsband war immer The Prodigy und nichts aus dem Hip Hop-Bereich. Ich fand elektronische Musik einfach schon immer sehr inspirierend. Es ist so ein bisschen das Gefühl, das ich hatte, als ich angefangen habe mit "Zum Glück In Die Zukunft". Ein Song wie "Verstrahlt" war sehr elektronisch, aber hatte trotzdem immer so eine Melancholie, so ein deepes Gefühl aus der Lostness heraus. Das ist auf dem neuen Album wieder so. Zwar ist der Sound ein ganz anderer, aber bei den Leuten kommt das Gefühl wieder, was sie mit mir verbinden und was mich stark und groß gemacht hat.

Groß gemacht haben dich auch deine erfolgreichen Singles.

Ich versuche, die Kunst über alles zu stellen und nicht den Erfolg oder den Super-Hit. Ich habe schon ein paar Hits in meinem Leben gehabt. Aber es geht mir um die Musik-Kunst. Und ich bin ein Album-Künstler. Heutzutage ist das nicht mehr das Allerwichtigste, aber für mich ist es das, weil ich es liebe, ein Album zu produzieren und die Leute mit auf einen Trip zu nehmen. Das habe ich in der Vergangenheit ab und zu verloren. Manchmal sind das so ganz kleine Nuancen, wo man merkt: Eigentlich braucht meine Musik genau das. Dann fühle ich sie auch selbst am meisten. Nur wenn du es selbst richtig fühlst, fühlen es die anderen auch.

"Es ist schon vollkommen OK, dass das Leben vergänglich ist."

Du wolltest "eine Platte machen, die von der Nacht erzählt". Domian sagte mal: "Die Nacht öffnet die Seele." Findest du dich darin wieder?

Ja, das Unerwartete der Nacht ist das Schöne. Man nicht weiß, was passiert. Das gibt es im normalen Alltag des Lebens nicht so oft. Du weißt, wann du zur Arbeit gehst und nach Hause kommst. Dann gibt es Abendbrot und du gehst mit Freunden ins Kino. Das ist alles so klar. Die Nacht ballert dich mal aus der Bahn. Die geht mal links oder rechts vorbei am normalen 130 fahren. Wo geht man hin? Wo wacht man auf? Hat man sich unter Kontrolle? Macht man dumme Dinge? Übertreibt man Dinge? Man lernt Menschen, Freunde fürs Leben oder einen One-Night-Stand kennen. Alles ist möglich. Das ist das Magische, wenn draußen die Lampen angehen. Es ist wie eine andere Welt. Und diese Welt schreibt sehr gute Musik. [lacht]

Du bist auf dem Cover ja nicht nur verschwitzt, sondern auch verletzt. Kann die Nacht auch schmerzhaft sein?

Bei all den Covern, die ich bis jetzt gemacht habe, mache ich mir immer schon meine Gedanken. Dieses Cover ist für mich mehrdeutig und hat verschiedene Ebenen. Es könnte das Gesicht der Welt im Moment sein. Es könnte auch einfach das Gesicht der Nacht nach drei Tagen durchfeiern sein. Das ist sehr offen. Sehr angeknockt ist allgemein so ein Lebensgefühl und trotzdem strahlt das Bild auch noch. Ob es die Corona-Pandemie ist, die gerade die Leute so ein bisschen lost lässt? Oder ist es der Anblick der Welt, wie problematisch sie gerade aussieht? Oder ist es einfach nur die wahnsinnige Nacht und man kommt mit einem blauen Auge davon? Man kann es sehr viel interpretieren.

In "Paradise Delay" heißt es: "303 und 808 rufen zum Gebet. Mein Gott drückt wieder ma' auf Play." Wie groß ist die religiöse Komponente beim Feiern?

Ich habe keine religiöse Komponente beim Feiern. Es geht einfach um den Vergleich, etwas zu spüren, das nicht von dieser Welt ist. Einfach das Gefühl zu haben, seinen Lieblingssong zu hören oder irgendwann morgens um acht in irgendeinem Club einfach geilsten Sound zu haben. Einfach ein sehr erhabenes Gefühl, was ein bisschen anders ist als das irdische. Das möchte ich mit solchen Sachen sagen.

Zum Leben gehört der Tod, der bereits auf "Zum Glück in Die Zukunft" eine Rolle spielte. Jetzt sagst du: "So will ich mich hören, und so soll ich in Erinnerung bleiben." Wie oft denkst du über den – nennen wir es mal Karrieretod – nach?

Es ist einfach eine Bestandsaufnahme. Ich denke nicht die ganze Zeit darüber nach. Es ist schon vollkommen OK, dass das Leben vergänglich ist. Aber wie will man gehört werden und als welche Art Künstler will man nach außen hin dargestellt werden? Es geht ja auch einfach darum, dass man sich selbst findet. Wenn man sich selbst findet und die Musik macht, die einen selbst am meisten anspricht, dann ist es auch das Gefühl, wie du in Erinnerung bleibst. Die Melancholie und die Tiefe, die diese Platte trotz des Feieraspekts hat, sind sehr besonders und persönlich für mich. Ich bin einfach ein Künstler, der sehr persönlich ist. Wenn ich nicht so persönlich bin, dann ist meine Musik auch nicht so gut. [lacht] Deswegen ist es für mich wichtig, dass ich mich daran festhalte und die Magie beibehalte. Ich weiß, dass Musik nicht schnell entsteht, sondern wachsen und atmen muss. Das ist das Geheimnis.

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