laut.de-Kritik

Vergesst die Hit-Singles, sie kann mehr!

Review von

"There's truth in every word I write." Alessia Cara wirkt gequält. Quält sie sich für uns oder authentisch-autobiographisch? Egal wie: Die Intensität des zweiten Albums der jungen Kanadierin überrascht, klagt sie ihr Leid doch sehr angenehm verpackt. Wer selbst nicht so 'into' in der Szene der jungen YouTube-Stars ist und beim zufälligen Wischen über den Handy-Bildschirm mal kurz auf eines ihrer Videos rutscht, denkt wohl schnell: Schon wieder eine aus dieser Radio-Charts-Pampe.

Stimmt teilweise, denn die Vorab-Singles zu "The Pains Of Growing" lassen sich kaum als Glücksgriffe einstufen. Der Longplayer bietet nämlich wesentlich mehr als schnelllebige Pop-Kost. Alessia unterscheidet sich von vielen anderen aufgrund ihres zutiefst überzeugenden Ausdrucks in der Stimme und eine vorsichtige Prise Soul, ohne einen auf Soulsängerin machen zu wollen. Folk oder EDM, die großen Trends 2018 und der Vorjahre, sind ihre Sache nicht so wirklich, doch erst jetzt emanzipiert sie sich davon.

Zum Glück. Die 22-Jährige wollte etwas von bleibendem Wert schaffen. Die Umsetzung klingt bei bevorzugter Dur-Tonalität recht unaufgeregt und locker. Hier kommt nichts Vernebeltes, regnen keine Ergüsse einer traurigen Folk-Elfe auf uns herab. Eher landet hier ein sonniges Album im Spätherbst. Das, was man über Alessia privat weiß, legt nahe, dass sie ihre unglückliche Liebe zum Pop-Kollegen Kevin Garrett thematisiert. Die CD kreist ums Thema 'Selbstfindung nach verflossener Beziehung'.

Gemessen am Erstling "Know-It-All" springt "The Pains Of Growing" einen sportlichen Riesensatz nach vorne. Ihre Stimme nimmt einen in einem relativ schnellen Sprachfluss von einem Track in den nächsten mit, ohne dass man sich groß wehren könnte. Sie signalisiert, sie hat etwas zu verarbeiten.

Hört man das beschwingte und doch ruhige, anrührende "Out Of Love" und achtet auf die Färbung in ihrer Stimme, fühlt man ihre Sehnsüchte, und zwar frei von Depri-Gejammer. Bei ihr geht es um Melancholie, die sich aus vielschichtigen Ebenen zusammensetzt: Das unstillbare Verlangen nach etwas oder jemand nicht Erreichbarem zählt dazu. Das nostalgische Gefühl, Träumen nachzuhängen, zieht sich als roter Faden durch. Mit diesen Stimmungen füllt Alessia auch den Song "My Kind" recht prall. Je weiter man ans Ende des Albums vordringt, desto mehr nähern sich die Klangfarben dem Neo-Soul an und desto hochwertiger werden die Tracks.

Doch von der ersten Album-Hälfte bleibt kaum etwas hängen. Die Stärken der Songs liegen im flüssigen Storytelling. So funktionieren sie in den englischsprachigen Ländern über die Lyrics. Einzig im soundtechnisch exzellenten "7 Days" kommt das Teenie-Vorbild vor der Halbzeit auch musikalisch zur Sache. Die Dynamik des Liedes reizt ihre Stimme im Refrain zu einem leicht krächzenden Timbre. She got Soul! Das akustische, fragmentarische "A Little More" markiert den Punkt, an dem sie die Kurve kriegt. Bis zum Ende in "Easier Said" hat sie dann ihren Flow gefunden. Die großzügigen Schlagmarken von Bass und Drums klingen darin wie aufprallende Basketbälle und hämmern dem Gesang von Alessia große Bedeutung ein, obwohl sie dort kaum noch Text hat und immer dieselben Wörter wiederholt.

"All We Know" funktioniert ganz gut, sobald man sich komplett auf den durchdachten Text konzentriert. Andernfalls rauscht das Lied leider vorbei. Songs wie "Not Today" und "I Don't Want To" verfügen in den Melodie-Verläufen kaum über Bewegung, gefühlt sind es Zwei-Akkord-Songs. Nun ja, Menschen mögen in der Regel Melodien - so sorry, Alessia: Die gesanglich respektable Mühe beeindruckt in diesen Fällen schon sehr, andererseits treten gerade die Single-Auskopplungen auf der Stelle.

Das Stefanie Heinzmann-Syndrom, einen Mangel an kompositorischen Einfällen mit einem Übermaß an Soundfülle zu übertünchen, besitzt die Def Jam-Produktion von Alessia indes nicht. Die Musik bleibt angenehm auf dem Teppich. Dadurch macht "The Pains Of Growing" keine Anstalten, auf irgendwelchen Modetrends auszurutschen. Def Jam steht für Rap, Hip Hop, Soul. Alessia nutzt die Off-Beats für sich: Achtsamkeit beim Hören schult die feinsinnige, nuancenreiche, sehr schöne Soul-Ballade "Comfortable". Deren Drive erinnert etwas an die letzten Alben von Alicia Keys und Mary J. Blige, also an recht fortschrittliche, reife, erwachsene und persönliche Werke der Urban Music.

"Nintendo Game" überrascht derweil nicht etwa dem Thema gemäß mit Computergame-Synthie-Pop, sondern mit warmem Sound, Dramaturgie und organischem Raumklang. Der intensive Zweieinhalb-Minüter mit Klavier und Bass-Disco-Wummern ist der heimliche Hit des Albums. Die Message: Liebe gestalte sich zappelig, Level-süchtig und kriegerisch wie ein Nintendo-Spiel, so wundert sie sich. Der Neo-Soul-Tune benutzt ein paar kleine feine Echo-Effekte auf der Stimme im Refrain. Das beste Zitat aus dem Album stammt von hier und lautet: "Baby, baby, baby / this is getting to crazy / I don't have the training / (...) so we should just stop playing." Alessia will Harmonie statt Macht. Die Strophe eignet sich für viele weitere Deutungen.

Der schmerzvolle Liederzyklus hält somit einige sehr gelungene Stücke bereit. Keinem der Songs kann man Originalität oder Aufrichtigkeit absprechen. Dass die Platte an manchen Stellen dennoch nicht zündet, ist richtig schade. Denn Alessia Caras Talent und Potential sind kaum zu überhören.

Diese Künstlerin hat eine Mission. Def Jam gibt ihr von Unplugged bis Bass-Overflow die passenden Mittel dafür. Mit ihrer festen und präsenten Stimme vermittelt sie eine positive Ausstrahlung. Abwechslung ist auch vorhanden, die meisten Titel werden nach mehrmaligem Hören immer besser und sogar liebenswert. Aus all diesen Gründen sollte man sich (mindestens) die hintere Hälfte der Scheibe anhören. Die Grammy-Gewinnerin is growing.

Trackliste

  1. 1. Growing Pains
  2. 2. Not Today
  3. 3. I Don't Want To
  4. 4. 7 Days
  5. 5. Trust My Lonely
  6. 6. Wherever I Live
  7. 7. All We Know
  8. 8. A Little More
  9. 9. Comfortable
  10. 10. Nintendo Game
  11. 11. Out Of Love
  12. 12. Girl Next Door
  13. 13. My Kind
  14. 14. Easier Said
  15. 15. Growing Pains (Reprise)

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