laut.de-Kritik
Persönlicher Pop über die zwei Seiten des Lebens.
Review von Jakob HertlWas haben das Leben und Schallplatten gemeinsam? Richtig, es gibt immer zwei Seiten. Anders als bei den richtig guten Platten sind im Leben aber meistens nicht beide Seiten schön. Das haben uns allen die letzten zwei harten Corona-Jahre gezeigt. Viele von uns haben geliebte Menschen verloren, sich alleine gefühlt, mit sich selbst gekämpft und doch nie aufgegeben. All das verarbeitet auch Alice Merton in ihrem neuen Album "S.I.D.E.S."
Es ist nach dem Debüt "MINT" von 2019 eine noch mal weitaus persönlichere Platte, die geprägt ist von eben diesen beiden Seiten des Lebens. Stellvertretend dafür steht der beste Song vom Album, "Blindside". Er handelt von der zweiten Seite, die wir oft nicht wahrnehmen, da sie sich im "Blindspot" im "Toten Winkel" befindet. Zu den klugen Lyrics zeigt Alice Merton darauf auch ihre herausragende Stimme. Die ist sowieso das Highlight einer musikalisch grundsoliden und abwechslungsreichen, aber nicht immer spektakulären Platte mit spannenden Texten.
Aber fangen wir ganz von vorne an. So richtig los geht es nach dem schwachen "Loveback" mit dem ersten Highlight "Island", irgendwo zwischen Classic Pop und rockigen Elementen, mit super catchy Melodie. Den Sounds aus "Future" merkt man erstmals an, dass Alice Merton für "S.I.D.E.S." mit verschiedenen Produzenten gearbeitet hat und viel experimentiert hat. Digitale Drums gesellen sich zu Synthesizern, aber auch der gewöhnlichen E-Gitarre.
Allgemein beschreibt das den Sound der Platte gut, die insgesamt nach wie vor sehr auf echte Instrumente fokussiert ist. Jedoch ohne Angst, Neues auszuprobieren und mit dem einen oder anderen Ausflug in andere Klangwelten, etwa auf "Blurry". Die Songs klingen meist sorglos, dabei wird es durchaus auch öfters düster. Kein Wunder, im Interview bei laut.de erklärte Alice: "Ich finde, in meinen Songs ist immer eine sehr dunkle Seite, die man oft nicht wirklich entdeckt beim ersten Hören. Aber wenn du auf den Text achtest, wird es immer deutlicher."
Tatsächlich verstecken sich zwischen den Zeilen tausende Geschichten, die jeder auch für sich interpretieren kann. Es geht um Ängste und Zweifel, auch viele Selbstzweifel und Selbstkritik oder sogar -hass, zum Beispiel auf "Same Team" oder "Everything", das musikalisch eigentlich sehr fröhlich daherkommt, aber von Verlust handelt.
Dabei stehen häufig andere Menschen im Fokus von Alice Merton, die sie nicht versteht und trotzdem für sie kämpft ("Shiny Things") oder die sie retten will – und dabei nur sich selbst mit runterzieht ("Hero"). Aber wenn "words cut sharper than knives" ist es meistens eben doch am besten, einfach loszulassen ("Letting You Know").
Bei all den bitteren Gedanken und Gefühlen hilft manchmal nur eins: "Breathe In, Breathe Out". Nicht nur die so simple wie wichtige Message, sondern auch die groovige Gitarre und die coolen Percussions machen sofort wieder gute Laune. Es sind schließlich auch einige hoffnungsvolle, uplifting Songs dabei: In "100 Stories" bringt Alice ihre Begeisterung dafür hervor, zu reisen, die Welt zu entdecken, sich seine eigenen Geschichten zu bauen.
Die mit Abstand erfolgreichste Vorab-Single "Vertigo" gehört aufgrund der spannenden Bridge ab Minute 2:10 musikalisch zu den besten Stücken. Neben den bereits genannten "Blindside", "Island" und "Breathe In, Breathe Out" gesellen sich vor allem das tiefentspannt atmosphärische "Shiny Things" und das etwas experimentellere "Mania" in diese Kategorie. Ganz besonders herausragende Werke gibt es kaum, die abwechselnden Styles geben der Platte aber einen interessanten Twist.
Inhaltlich dominieren zwar die bedrückenden Lyrics, aber die andere Seite – die positive – verliert Alice Merton nicht aus den Augen. Im Gegenteil: auf dem Abschluss-Lichtblick "The Other Side" singt sie "I'm on the other side of it now." Auf "S.I.D.E.S." haben beide Seiten ihre Daseinsberechtigung, die schöne und die nicht so schöne. Trotz allen Schmerzes wird man am Ende aber doch mit der hoffnungsvollen Seite zurück ins Leben entlassen.
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