28. Juni 2022

"Meine Songs haben immer eine dunkle Seite"

Interview geführt von

Im Gespräch mit laut.de spricht Alice Merton über eine schwere Zeit, ihre bevorstehende Tour und warum sie auf dem Cover zu ihrem neuen Album davonschmilzt.

Mit "No Roots" begeisterte sie die ganze Welt, knapp drei Jahre nach ihrer Debütplatte "MINT" ist Alice Merton nun mit ihrem zweiten Album "S.I.D.E.S." am Start. Erst kürzlich haben wir sie beim Southside Festival gesehen, eine Woche vorher war sie aber schon zum Interview bei laut.de zu Gast.

Das Zoom-Meeting, in das ich um 15:45 Uhr eintrete, trägt den Titel "Press Day" und startete laut Zoom schon um 11:30 Uhr. Musiker*in zu sein, macht eben nicht immer nur Spaß. Die vom Heuschnupfen geplagte Alice sitzt in einer viel zu heißen Wohnung in Berlin, doch trotz der Umstände begrüßt sie mich freudig zum Gespräch.

Hi Alice!

Hi!

Ich hab mir überlegt, wir könnten mit einem kleinen Spiel reinstarten, wenn du da Bock drauf hast.

Kommt drauf an, was für ein Spiel, aber klar gerne (lacht).

Ich dachte an eine Runde "Entweder oder" zum Einstieg.

Machen wir so.

Alright, dann lass uns loslegen. Erste Frage: Koriander oder Minze?

Minzeeee. Eindeutig.

Voice Of Germany oder Masked Singer?

Uhhh ... Voice Of Germany.

Jimmy Kimmel oder Jimmy Fallon?

Jimmy Fallon.

Echtes Flugzeug oder Paper Plane?

Paper Plane.

Hm, das waren jetzt alles die Antworten, die ich erwartet habe. Was soll ich dich denn jetzt fragen?

(lacht)

Dann lass uns über deine Karriere reden. Dein Durchbruch war 2016 "No Roots". Das ist schon eine Weile her, aber natürlich trotzdem immer noch dein größter Hit. Wie sehr hast du es schon satt, in Interviews darüber zu reden?

Ich weiß, dass es einfach zum Job gehört, dass ich danach gefragt werde. Und der Erfolg kam ja auch erst später. Ich meine, wir haben den Song ja Ende 2016 rausgebracht, der Erfolg kam eigentlich erst Mitte 2017. Mir tun eher Leute leid, die schon ganz viele Jahre über ihre Songs sprechen müssen, bei mir war es jetzt ja noch nicht so super lang. Ich bin einfach dankbar, dass der Song sich so entwickelt hat und dass ganz viele Leute den gerne gehört haben.

"No Roots" war auf jeden Fall ein wichtiger Song für dich, ja so ein bisschen "Story Of Your Life". Du bist in Deutschland geboren, in Kanada aufgewachsen, immer viel unterwegs gewesen. Und in dem Song singst du darüber, dass du Zuhause mit Menschen verbindest, nicht mit einem Ort. Ist das immer noch so?

Auf jeden Fall, ja. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich einen Ort habe, wo ich mich zuhause fühle.

Ich frage das auch wegen Corona. Durch die Reisebeschränkungen war es ja sicher schwer, weiterhin so viel unterwegs zu sein. Bist du dann auch mal länger an einem Ort geblieben und so richtig angekommen?

Musste ich, mussten ja alle leider. Ich war dann in Berlin eben festgesetzt. Aber nach der Pandemie, beziehungsweise letztes Jahr, als es dann ein bisschen entspannter wurde, bin ich dann aus diesem Grund auch wieder umgezogen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich sesshaft werde. Und ich wollte das irgendwie nicht. Ich wollte weiterhin in anderen Ländern und anderen Städten wohnen.

Steht da noch etwas bestimmtes auf dem Plan, wo du gerne noch hin willst?

Ich bin ja gerade erst umgezogen, deswegen habe ich jetzt noch keinen festen Plan, wo es danach hingehen soll. Also ich bin erst mal glücklich hier in London.

Wie war denn allgemein die Corona-Zeit für dich. Wie hast du das erlebt?

Es war auf jeden Fall eine schwierige Zeit – für uns alle nicht schön. Für mich war es einfach besonders schlimm, weil zwei Menschen, die mir sehr wichtig waren, sozusagen aus meinem Leben verschwunden sind. Darum geht es ja auch in meinem zweiten Album "S.I.D.E.S." Ich wollte einfach nicht aus dem Bett raus. Auf dem Cover von dem Album sieht man auch, wie es mir eigentlich dann zwei Jahre lang ging. Ich bin zum ersten Mal in Therapie gegangen. So richtig, also auch wirklich jede Woche und hatte das Glück, einen Therapieplatz zu bekommen. Also mir ging es auf jeden Fall nicht gut.

"Ich finde, es ist kein Folge-Album von MINT"

Dass die Corona-Zeit nicht nur Negatives hervorgebracht hat, zeigt dein Album, das du gerade schon angesprochen hast. Es heißt "S.I.D.E.S.", 16 neue Songs, kommt nächsten Freitag. Ein Album ist ja ein bisschen wie ein Baby, man hat viel Kraft und Energie reingesteckt und entlässt es dann endlich an die Öffentlichkeit. Wie fühlt man sich denn so eine Woche vorher? Dominieren da Sorgen, wie es wohl ankommen wird oder Vorfreude oder Erleichterung?

Ich glaube, es ist bei jedem Album unterschiedlich. Ich meine, ich habe ja erst eins rausgebracht. Aber da ging's mir wirklich schlecht am Release-Tag, weil ich richtig Angst hatte, wie die Leute das Album finden werden. Ich weiß gar nicht, wie es mir dieses Mal gehen wird. Ich bin jetzt schon ziemlich aufgeregt, ich will es aber auch irgendwie einfach draußen haben und weitermachen. Die Songs endlich live performen. Ich will, dass die Leute die Geschichten wissen, neue Songs zum Anhören haben. Das finde ich schon sehr spannend an dem Job, dass man nie weiß, was passieren wird. Dass vielleicht plötzlich super viele Leute sich identifizieren können mit einem Song. Die Reaktion ist immer spannend. Aber ich versuche mich da nicht so reinzusteigern, weil ich weiß, dass einen das auch verrückt machen kann.

Dein erstes Album ist ja schon ganz gut angekommen, also ich glaube, du brauchst dir nicht allzu große Sorgen machen.

Ja und jedes Album ist ja auch anders. Also es ist finde ich kein Folge-Album von "MINT", sondern schon ein eigenes Album für sich. Ich bin der Meinung: jemand der mich gar nicht kennt, würde auf dem Album auf jeden Fall einen Song finden, den er mag. Ich habe so viel ausprobiert, ich habe echt experimentiert, um zu schauen, wo es hingeht. Habe mit diversen Produzenten gearbeitet. Es gibt rockige Songs, es gibt entspanntere Songs wie "Everything", poppige wie "Same Team". Es hat stilistisch eine große Bandbreite.

Es ist auf jeden Fall wieder ein sehr persönliches Album. Du singst wieder über Ängste, Zweifel, aber auch Hoffnung und Selbstvertrauen. Es ist in meinen Augen auch wieder sehr poppig und sehr instrumental. Was unterscheidet denn die neue Platte in deinen Augen von deinem ersten Album?

Ich glaube, sie ist einfach vielfältiger. Auf dem ersten Album hat man mehr Songs gehabt, die so in eine Richtung gehen, auch von der Produktion her. Und "S.I.D.E.S." ist auf jeden Fall vielseitiger.

Wenn du das so sagst, bist du mit deinem ersten Album gar nicht mehr so zufrieden?

Nein nein, vielseitiger ist in dem Fall weder etwas Positives noch etwas Negatives. Ich habe einfach mit mehr als einem Produzenten daran gearbeitet und dadurch ist es einfach natürlich entstanden.

Du hast vorher schon das Alben-Cover von "S.I.D.E.S." angesprochen, auf dem du ja zu sehen bist, wie du davonschmilzt. Würdest du sagen, das repräsentiert sozusagen deine Gefühlswelt beziehungsweise den Inhalt des Albums?

Auf jeden Fall. Eigentlich habe ich mich genauso gefühlt die letzten zwei Jahre und deshalb fand ich das Artwork perfekt. Ich habe den Künstler vor einem halben Jahr entdeckt, ein Kunstwerk von ihm gesehen und ihn direkt angeschrieben und gefragt, ob er Lust hätte mein Alben-Artwork zu machen.

Wer hat das denn gemacht?

Aykut Aydogdu. Er kommt aus der Türkei.

Zurück zur Musik. "Blindside" war dabei eines meiner Highlights. Nur das Video dazu fand ich ein bisschen verstörend, ich glaube das musst du mir noch mal erklären.

Also "Blindside" oder "Blindspot" auf Deutsch übersetzt heißt ja im Prinzip so etwas wie "Toter Winkel", wenn beim Fahren ein anderes Auto kommt und du siehst es nicht. "Blindside" ist also einfach die Seite, die du die ganze Zeit nicht gesehen hast. Darum geht es in dem Song. Dass man eigentlich die ganze Zeit denkt, man kennt einen Mensch und dann kommt etwas – in dem Video zieht er die Maske ab – nachdem du den Menschen einfach nicht wiedererkennst. Aber trotzdem bist du dann noch mit dem Menschen weiter befreundet und so weiter. Ich sage ja auch "Maybe it wasn't right." Das ist so ein bisschen eine Satire. Es ist ein sehr ernstes Thema: "I sat down with a gun to my head." Also es hält sozusagen jemand eine Pistole an deinen Kopf und sagt "So und so musst du es machen oder ich erschieße dich." Ich hatte es sehr oft in meinem Leben, dass mir Menschen in meinem Leben ein Ultimatum gegeben haben, was für mich sehr anstrengend war in meinem Berufsleben und dass keiner so wirklich darauf reagiert hat. Also ich wollte dieses ernste Thema in einer richtig schönen und uplifting Produktion verpacken. Weil am Ende des Tages singe ich ja auch "Who's to blame?" Du hast keine Ahnung, wem du die Schuld geben sollst – der Person oder dir selbst, weil du es nicht gesehen hast.

Vielleicht verstehe ich jetzt auch das Video. Du hast ja durchaus mehrere Videos in dem Stil, ein kleines bisschen upgespaced, "Vertigo" zum Beispiel oder "Same Team". Könntest du dir denn vorstellen, mal eine Rolle zu spielen in einem Horrorfilm oder Krimi?

Neeee, ich glaube Schauspielerin bin ich nicht. Aber ich spiele gerne in den Videos zu meinen Songs mit. Und ich finde, in meinen Songs ist immer eine sehr dunkle Seite, die man oft nicht wirklich entdeckt beim ersten Hören. Aber wenn du auf den Text achtest, wird es immer deutlicher.

"Super viele spannende Projekte natürlich."

Hast du dich schon mal selbst gegoogelt?

Ja klar.

Und wie war das so?

Hm, naja manchmal stehen eben keine richtigen Fakten drin. Hast du mich denn gegoogelt?

Natürlich, deswegen frage ich. Wenn man deinen Namen googelt, ist der zweite Suchvorschlag nämlich "Alice Merton Tour 2022".

Uhhhh, sehr schön.

Ja, du gehst auf Tour jetzt im Herbst und Winter durch Deutschland und Europa. Excited?

Super excited! Ich habe es auf jeden Fall vermisst. Wir waren jetzt auch auf Tour die letzten Wochen. Wir waren in Amerika vor ein paar Wochen, dann waren wir auf Festivaltour. Also wir haben das Glück, wieder spielen zu können, was sehr sehr schön ist.

Was fehlt einem am meisten an den Live-Auftritten?

Ich glaube einfach die Gesichter. Und die Reaktionen der Menschen zu sehen. Tanzende Menschen zu sehen. Das ist immer schön.

Gerade mit Blick auf die Tour in Deutschland: hast du denn vor, dich zukünftig mehr auf den deutschen "Markt" zu fokussieren oder willst du schon eine internationale Künstlerin bleiben?

Also während Corona konnten wir uns ja eh nicht auf einen Markt konzentrieren. Und im Herbst haben wir auch einige europäische Städte im Programm drin, wie Mailand, Manchester oder London. Wir spielen auch in Polen, Luxemburg, Ungarn. Also ich würde jetzt nicht sagen, dass wir den Fokus nur auf Deutschland legen.

Gibt es irgendeinen Auftritt, auf den du dich besonders freust?

Das Sziget Festival in Budapest. Ich war noch nie dort, aber habe gehört, dass es sehr schön ist.

Auf jeden Fall ein paar Sachen, auf die du dich freuen kannst. Erst dein Album, dann ein paar Festivals, die Tour – ein volles Programm. Was kommt danach? Erst mal Pause machen oder schon super viele spannende Projekte geplant?

Super viele spannende Projekte natürlich.

... über die du uns schon etwas erzählen darfst oder alles noch streng geheim?

Alles noch streng geheim. (lacht)

Schade, da müssen wir uns wohl noch gedulden. Dann erst mal viel Erfolg mit dem Album, viel Spaß auf Tour und vielen Dank für das Interview.

Danke dir!

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