4. August 2022

"Für uns ist es immer nur bergauf gegangen"

Interview geführt von

Arch Enemy haben ihr Erfolgslevel nach dem Wechsel von Sängerin Angela Gossow zu Alissa White-Gluz noch gesteigert. Fünf Jahre nach dem letzten Album und einer Bühnen-Zwangspause soll es für die Melodic-Death Metal-Institution mit ihrem neuen Werk "Deceivers" so weitergehen.

Das Interview mit Sängerin Alissa White-Gluz und Bandleader Michael Amott findet im obersten Stockwerk des neuen Sony-Music-Headquarter in Berlin statt. Hinter der Band liegt eine vierwöchiger Tourabschnitt in Nordamerika und eine lange Flugreise von Los Angeles. Für die Promo ihres neuen Albums "Deceivers" nehmen die beiden Aushängeschilder der Band das aber gerne in Kauf, von ihrem Jetlag lassen sie sich nichts anmerken. Das Gespräch wird einmal kurz unterbrochen, als plötzlich ein wunderschöner Regenbogen am Himmel zu sehen ist. White-Gluz zückt ihr Handy und fotografiert das Kunstwerk.

Das Schlimmste an der Pandemie scheint hinter uns zu liegen, ihr bringt ein Album raus und seid endlich wieder auf Tour. Könnt ihr eure Gefühle beschreiben, nach zwei frustrierenden Jahren wieder zurück zu sein?

Michael: Das ist ein tolles Gefühl, das kann ich nicht anders sagen. Es war großartig, bei unserer Tour in Nordamerika wieder auf der Bühne zu stehen. Das hat uns viel Energie gegeben und wir sind superhappy, dass es endlich wieder vorangeht.

Vor eurer Nordamerika-Tour im Mai habt ihr das letzte Mal im Dezember 2019 ein Konzert gegeben. Wart ihr nach dieser längeren Bühnen-Abstinenz nervöser als sonst?

Alissa: Ich war weniger nervös als normal. Ich bin generell nicht besonders aufgeregt vor Shows. Dieses Mal war ich einfach nur happy, dass wir überhaupt mal wieder live auftreten konnten. Das war viel stärker als ein Gefühl von Nervosität.

Der Aufnahmeprozess in der Pandemie war doch sicherlich ziemlich ungewöhnlich im Vergleich zu den vorangegangenen?

Michael: Eigentlich war alles irgendwie bizarr (lacht). Nein, im Ernst: Dieses Mal war es vor allem für unser Management mehr Arbeit als sonst. Die ganze Koordination, die Logistik, die Leute von A nach B zu bringen. Das funktionierte wegen all der Reisebeschränkungen nicht so reibungslos. Die Herstellung des Albums war deshalb komplizierter und teurer als gewöhnlich. Auf der anderen Seite hatten wir eine klare Aufgabe zu erledigen. Die Welt spielte verrückt, viele negative Dinge passierten. Wir konnten uns auf unser Projekt fokussieren und alles andere ausblenden.

Alissa, konntest du von Kanada nach Europa kommen?

Ja, schon. Es hat aber manchmal mehrere Anläufe gebraucht, weil sich oft die Gesetze oder Restriktionen innerhalb kürzester Zeit geändert haben. Als ich zum Beispiel nach Deutschland gereist bin, war ich nicht sicher, ob ich reingelassen werde. Ich habe alles gepackt und bin losgeflogen. Doch es hätte sein können, dass ich wieder zurückgeschickt werde.

Ich habe gelesen, dass euer Gitarrist Jeff Loomis zweimal vergeblich versucht hat, nach Europa zu kommen.

Michael: Ja, das stimmt, das war echt blöd. Er hat aber das Beste daraus gemacht und seine Parts in einem Studio in der Nähe von Seattle aufgenommen. Das hat ganz gut funktioniert. Klar hätte ich ihn lieber bei mir gehabt. Wenn man zusammen im Studio ist, kann man ganz anders an den Songs arbeiten und Änderungen vornehmen. Dieses Mal mussten wir viel genauer planen, wie wir was machen. Die Zeitverschiebung zwischen Europa und den USA hat auch noch mit reingespielt. Tja, in diesen Zeiten eine internationale Band zu sein, deren Mitglieder in den USA, Kanada und Schweden leben, war die schlechteste Idee überhaupt (beide lachen).

"Manchmal male ich mir meinen Körper so an, dass es nach meinem Wunschoutfit aussieht"

Wie hat es mit deinen Gesangsaufnahmen funktioniert, Alissa?

Alissa: Michael und Daniel (Erlandsson, Schlagzeuger, Anm. d. Red.) haben mir den instrumentalen Versionen der Songs rüber geschickt. Ich habe meine Parts von den Songs, die bereits Texte hatten, in meinem Homestudio aufgenommen. Das mache ich seit 2016. Mittlerweile bin ich ziemlich gut darin. Es ist sehr praktisch, dass ich meine Demos bei mir zu Hause aufnehmen kann. Später bin ich dann nach Deutschland geflogen und von dort nach Dänemark gereist, wo ich bei Produzent Jacob Hansen die richtigen Gesangsparts aufgenommen habe.

Ihr habt vor Erscheinen des Albums bereits vier Videoclips ("House of mirrors", "Handshake with hell", "Deceiver, Deceiver", "Sunset over the empire") veröffentlicht. Wo haben die Aufnahmen stattgefunden?

Michael: Zwei haben wir in der Gegend rund um Göteburg in Schweden aufgenommen und die beiden anderen in, ach ich kann den Namen nicht richtig aussprechen – wie auch immer, das war in Polen. Die Aufnahmen haben uns total Spaß gemacht. Das war nach dem ersten Lockdown im September 2021. Es war super, dass wir uns alle treffen konnten.

Alissa, ich bin immer wieder beeindruckt von deinem Bühnenoutfit und auch der Kleidung, die du in den Videos trägst. Gestaltest du die Kleidung selbst?

Es kommt darauf an. Ich habe mein Outfit teilweise schon selbst designed. Es gibt aber sehr viele Leute, die das viel besser machen als ich. Es gibt sehr viele unabhängige Designerinnen in der Welt, die ich gerne unterstütze. Im Speziellen sind es zwei Frauen, die tolle Kollektionen herstellen und bei denen ich Kleidung in Auftrag gebe. Ich schicke ihnen Bilder von vorherigen Shows oder zeichne ihnen auf, wie ich die Kleidung ungefähr gerne hätte. Manchmal male ich mir meinen Körper so an, dass es nach meinem Wunschoutfit aussieht. Ich bin aber kein Model, das den Laufsteg auf und ab geht. Ich bewege mich sehr viel auf der Bühne und muss Klamotten tragen, in denen ich atmen und ausreichend Luft bekomme. Ich kann also nicht allzu verrückte Sachen tragen, ich muss die Balance zwischen visuell ansprechend und funktional herstellen.

Wie du schon selbst sagtest: Du bist sehr aktiv auf der Bühne. Übst du deine Bewegungen und Posen vor dem Spiegel?

Alissa: (lacht) Das habe noch nie gemacht. Ich bin selbst überrascht, wenn ich mich auf Filmaufnahmen nach einer Show sehe. Ich mache einfach das, was sich gut anfühlt. Meistens bin ich damit zufrieden, wie es aussieht.

Michael meldet sich zu Wort: Wir anderen sagen es ihr, wenn es nicht gut aussieht (lacht). Nein, ich nehme das eigentlich während einer Show gar nicht richtig wahr. Ich bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt.

Alissa zu Michael: Du sieht wahrscheinlich immer nur Haare herumfliegen wegen des Headbangings.

In der heutigen Zeit ist es völlig normal, vor Veröffentlichung des Albums gleich mehrere Videoclips der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Warum eigentlich?

Michael: Das musst du die Leute in den Büros der Plattenfirmen fragen. Ich war zuerst dagegen, weil ich dachte, dass die Fans verärgert sind, wenn schon so viel von der Platte preisgegeben wird. Das hat auch etwas mit dem Generationenwechsel zu tun. Die Art, wie Musik konsumiert und gehört wird, hat sich stark verändert.

Alissa: Ich konsumiere Musik am liebsten mit Musikvideos. Ich liebe dieses Format und ich wünschte, es würde noch MTV geben. Ich habe das früher jeden Tag geschaut. Ich mag es auch, Musikvideos herzustellen. Mit den Videos gibst du den Songs noch eine spezielle Note. Die Leute schätzen es sehr, wenn die Songs noch einen visuellen Effekt haben. Außerdem hat jeder Zugang zu den Videos, auf ein Konzert kann nicht jeder gehen.

Michael: Wir sind in der glücklichen Lage, eine große Fanbase auf der ganzen Welt zu haben. Mit den Videos können wir alle erreichen.

"Wir sind eine Band, die sich nicht auf einen bestimmten Stil festlegen lässt"

Kommen wir zu eurer neuen Platte. In meinen Augen ist "Deceivers" sehr hart und ruppig geworden. Ist dies das Resultat der zweijährigen Corona-Zwangspause?

Michael: Wir haben auf jeden Fall einige sehr brutalen Stücke auf dem Album wie zum Beispiel "Deceiver, Deceiver" von unserer ersten Single-Auskopplung. Ich denke, wir gehen aber in noch viele andere Richtungen. Wir sind eine Band, die sich nicht auf einen bestimmten Stil festlegen lässt.

Du hast den Song "Deceiver, Deceiver" erwähnt. Dort gibt es die Zeile "Kiss of Judas" (Kuss des Judas) und "King of Whores" (König der Huren). Wer ist mit Deceiver (Betrüger) gemeint?

Michael: Deutsche Musikjournalisten (lacht laut). Als ich den Text zu dem Song geschrieben habe, war ich nicht schlecht drauf. Doch er benötigt einfach aggressive 'in your face'-Lyrics. Ich habe in meinem Leben schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, die mich betrogen oder enttäuscht haben. An die habe ich gedacht.

Der Song handelt also nicht von Politikern?

Michael: Nein, du bist nicht der Erste, der das sagt. Das ist das Schöne, dass man Songs in verschiedene Richtungen interpretieren kann. Ich erkläre nicht so gerne meine Texte, ich überlasse es gerne dem Hörer, sich einen Reim darauf zu machen.

Alissa, du hast den Text zu "Handshake With Hell" geschrieben. Ich frage jetzt nicht, was die Aussage des Stückes ist. Es fällt aber auf, dass du zwischen Growls und normalem Gesang hin und her wechselst. Das kommt selten bei dir vor. Einige Fans werden bestimmt deswegen meckern. Wolltest du eine Reaktion bei den Zuhörern provozieren?

Alissa: Nein, so denke ich nicht. Ich möchte einfach einen guten Song haben. Als ich die ungewöhnliche Struktur des Stückes gehört habe, dachte ich mir: Klarer Gesang passt hier perfekt. Das baut die Spannung so schön auf.

Für dich ist es nun das dritte Studioalbum, seitdem du das Mikro von Angela Gossow (Sängerin von 2001 bis 2014) übernommen hast. Hättest du gedacht, dass alles so reibungslos vonstatten geht? Ich denke Arch Enemy sind erfolgreicher als jemals zuvor.

Alissa: Ja, das stimmt. Als ich neu in die Band kam, hatte ich keine allzu hohen Erwartungen. Ich wollte einfach gute Songs schreiben und ich wusste, dass ich mit meiner Stimme zum Erfolg der Band beitragen kann. Dass ich so gut angenommen worden bin, hat mich natürlich total glücklich gemacht. Ich habe aber versucht, die gesamte Situation nicht zu sehr zu analysieren.

Michael, wie hast du die damalige Situation wahrgenommen?

Michael: Ich hätte nicht gedacht, dass die Metalgemeinde uns nach dem Wechsel von Angela zu Alissa so gut annehmen würde. Ich habe mit Kritik gerechnet. Doch "War Eternal" (das erste Album mit Alissa) ist großartig geworden. Wir haben aber auch superhart dafür gearbeitet. Mir war klar, dass die Leute das Album ganz genau nach Fehlern untersuchen würden – doch sie konnten keine finden (lacht). Anschließend sind wir auf Tour gegangen. Ich glaube, wir haben auf dieser Tour über 300 Konzerte gegeben – so viel wie noch nie. Manchmal geht es für eine Band bergab, wenn wichtige Personen aufhören. Für uns ist es aber immer nur bergauf gegangen.

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1 Kommentar mit einer Antwort

  • Vor einem Jahr

    "Für uns ist es aber immer nur bergauf gegangen."

    Kommerziell vielleicht. Künstlerisch war nach dem zweiten Ausstieg von Chris Amott aber Ende, daran ändert auch Jeff Loomis nicht, der da völlig verbrannt drin festhockt, anstatt dem Trupp als Hauptsongwriter Feuer unterm Arsch zu machen bei dem vielleicht sowas wie gute Musik bei rumkommen könnte...