laut.de-Kritik

Solche Humorlosigkeit ist ein hohes Gut.

Review von

"If I seem distant and reserved" singt ein Vocal-Sample auf dem wahrscheinlich intensivsten Beat von "Bo Jackson". Etwas ungewöhnlich, aber nur gerecht, diesem Widerhall aus der gilbgrauen Plattenkistenvergangenheit den Klappentext zu Boldy James' neuem Groschenroman zu überlassen. Die dritte Vollzeit-Kollabo von Detroits düsterem Spitter und dem legendären Produzenten ist ihre beste bisher. "Bo Jackson" ist ein stilles, antisoziales Album übers Leben an der Ecke, an der man sonst mit angezogenem Schritt vorbeiziehen würde. Alchemist baut seinem Gespür für Sample-Cineastik ein Denkmal und James rappt sich eine holzschnitthafte Welt zurecht, in der er selbst gleichzeitig der unwirklichste und realste Charakter ist.

James ist großartig darin, mit kurzem Setup eine prägnante Szene zu erschaffen. Oft textet er nur ein kleines bisschen an den altbewährten Trapper-Phrasen vorbei, aber dieses eine Detail genügt, um aus dem abgedroschenen Abziehbild wieder die ihm zugrunde liegende Wirklichkeit hervorzubringen. "E.P.M.D, everybody plottin' my demise / I marvel at the sight of 'caine, I love to watch it rise" erinnert auf "E.P.M.D" an die Realitäten von Drogendeals. "Real street shit, ain't no sitcoms" kommentiert er später seinen eigenen Ansatz.

Diese Humorlosigkeit ist ein hohes Gut. Boldy James klingt nicht wie ein Rapper, der dir etwas verkaufen will. Deswegen erzählt er selten eine durchgehende Geschichte, er klingt nie, wie ein vom Game abgegrenzter OG, der in seinen Erinnerungen und Weisheiten wälzt, seine Stimme ist stets von Kippendunst benebelt und von der letzten Xanax-Pille betäubt. Die Monotonie und Beiläufigkeit, mit der er spricht, verschmilzt mit den regen Themenwechseln, die seine Gedankenstränge im selben Part legieren. Die Weisheit seiner Großmutter, eine Lektion der Sprache, ein kurzer Ego-Höhenflug und eine subtile Drohgebärde an die Konkurrenz können so verflochten sein, dass man nicht einmal ihr Abwechseln spürt.

So rappelt er sich über die Laufzeit sein ganz eigenes Figurenkabinett zusammen, das so real abgebildet ist, dass über dem Album irgendwann fast schon ein unwirklicher Schimmer schwebt. Vielleicht sind es die Referenzen an Ghoule, Dungeons und Micheal Myers, die er schon auf dem Opener "Double Hockey Sticks" ausspricht, die seine Szenen in Detroit wie die letzten Momente in einem Pulp-Roman erscheinen lassen, bevor das Übernatürliche eingreift. "Free Lenny, I know he home sick / He used to always leave his screen door open, you enter at your own risk", evoziert er binnen zwei Bars auf "Steel Wool" eine ganze Existenz auf den Takt, so eigenwillig und morbide wie ein Film noir.

Aber James ist nicht der Orchestrator, er ist die führende Figur in seinem eigenen Kabinett. Und damit das so flüssig funktionieren kann, damit die Welt wirklich so lebendig erscheint, wie sie es tut, braucht es eine entsprechend unglaubliche klangliche Untermalung. Und der Alchemist ist auf "Bo Jackson" nicht dabei, um zu spielen. In Sachen Komposition und Arrangement könnten es seine besten Beats bisher sein, die Menge an subtilen und spürbaren Bewegungen, die er aus kompliziert geflochtenen Samples erschafft, ist beeindruckend. Manchmal ist es ein lineares, hölzernes Klavier, das in bester 90er-Manier staubig den Loop stellt, dann dreht es sich auf einen Schlag in Versatzstücke von Stadtlärm und Feedback, bevor sich ein kunstvoll verzerrtes Stimm-Stück auftut.

Highlights bieten die bluesige Melancholie auf "Diamond Dallas", die kinoreife Anordnung einer weiblichen Stimme auf dem Storytelling-Meisterwerk "Illegal Search & Seizure" oder der klaustrophobisch aufgearbeiteten Soul-Nummer für "Turpentine". Aber nicht alles in diesem Alchemist-Universum ist kunstvoll und abstrakt, manchmal holt er hier auch einfach die dicken BoomBap-Bretter heraus. Wann hat ein simples Bumm-Tschack das letzte Mal so mies gescheppert wie auf "Steel Wool", "Speed Trap" oder "Brickmile To Montana"?

Da macht es doppelt Laune, wenn für eben diese Banger dann auch gleich gekonnt in die Feature-Kiste gegriffen wird. Benny The Butcher kommt auf letztgenanntem Track mit einem Karriere-Hoch-Feature ums Eck, der temporeichere Flow holt ihn erfrischend aus dem langsam etwas altbekanntem Modus. Earl Sweatshirt und Roc Marciano beteiligen sich an der makabren Nostalgie von "Photographic Memories". Freddie Gibbs haut mit Curren$y für "Fake Flowers" auf den Putz.

Jeder Gastbeitrag trifft ins Schwarze und versteht sofort die morbide, düstere Vene, die durch dieses Album fließt. Aber im Grunde hätte es keinen von ihnen gebraucht. Der Bag, in dem sich Boldy James und der Alchemist auf "Bo Jackson" befinden, verschlägt einem die Sprache. James wechselt die Flows und Reimschemata so mühelos, als würde er eine Zigarette vom linken in den rechten Mundwinkel schieben. Der Alchemist gräbt so tief in seinem Klangarchiv, dass seine psychedelischen, finsteren Produktion wie eine urtümliche Lebensform durch die Kanäle wandelt. Beide malen Bilder, die sich einbrennen. Bilder von Kälte, Abwehr und Feindseligkeit in dem gigantischen Dungeon-Labyrinth, als das sie Detroits Unterwelt kennengelernt haben. Oder um es mit den alles zusammenfassenden Worten zu sagen: "If i seem distant and reserved" - dieses Album erklärt, warum.

Trackliste

  1. 1. Double Hockey Sticks
  2. 2. Turpentine
  3. 3. Brickmile To Montana (feat. Benny The Butcher)
  4. 4. E.P.M.D
  5. 5. Steel Wool
  6. 6. Photographic Memories (feat. Earl Sweatshirt & Roc Marciano)
  7. 7. Speed Trap
  8. 8. Diamond Dallas (feat. Stove God Cooks)
  9. 9. Flight Risk
  10. 10. Illegal Search & Seizure
  11. 11. Fake Flowers (feat. Curren$y & Freddie Gibbs)
  12. 12. 3rd Person
  13. 13. First 48 Freestyle
  14. 14. Drug Zone

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2 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Das sind, anders als hier behauptet, bei weitem nicht Alchemists beste Produktionen. Sind aber noch gut hörbar.
    Boldy James ist ok aber die unenthusiastisch klingende delivery kann nicht wirklich ein Album tragen, auch mit ansonsten interessanten Texten. 3/5 für mich

  • Vor 2 Jahren

    Schwierig... Einerseits mag ich Boldys nonchalante Art, dieses Beat-Gefrickel von Alc, die dunkel-bedrohliche Atmosphäre und generell Alben, welche eine konsistentes Soundbild durchziehen.

    Andererseits... Wenn dann Beats fast quasi ohne Drums daherkommen und arg ins Plätschern geraten, ist es schon schwer vorstellbar, dass die vom gleichen Mann kommen, der auch Keep It Thoro oder You Ain't Got Nuthin produziert hat.

    • Vor 2 Jahren

      Alchemist probiert jetzt ein bisschen auf der Roc Marciano-Schiene zu fahren, was die Produktionen angeht, weil sich dieser Sound mit leisen bis kaum vorhandenen Drums jetzt bei guten MCs ein bisschen etabliert hat und jeder damit experimentieren will. Klappt auch bei Ka und Roc ganz gut aber auch vor allem deswegen, weil die im Texten unerreichbar sind.

    • Vor 2 Jahren

      Macht Alchemist aber schon seit 3-4 Jahren. Ich finds geil!

    • Vor 2 Jahren

      Ja gekonnt ist das schon, und überrascht hat es mich nicht. Aber manchmal hätte es dem Album schon gut getan, wenn es musikalisch etwas treibender zugehen würde.