laut.de-Kritik
Anmutiger und schillernder Dreampop mit dem Timbre der Sehnsucht.
Review von Philipp KauseDie Stimmen haben den Ausschlag gegeben. Dafür, dass diese Platte mit dem erhabenen Titel "Mercury Retrograde" nach zahlreichen Hördurchläufen eine Rezension und sogar eine Empfehlung wert ist. Im Niemandsland zwischen massentauglichem Rock-Pop, nischenhaftem Space-Synth-Wave und Downtempo-Trip Hop entschied sich Mastermind Harald Löwy für eine Dreampop-Platte mit Saxophon, instrumentalen Passagen und herausragenden Session-Sängerinnen. An die genannten umliegenden Musikrichtungen dockt das Projekt Chandeen hier und da an, was die Platte bei aller Traumseligkeit reich an Impulsen macht.
Vor allem Lead-Sängerin Julia Beyer sticht hervor und schiebt diese Produktion in die Nähe glühender Goldfrapp-Momente, reinkarniert auch verschollene ausdrucksstarke Geheimtipp-Bands wie Dubstar oder Luscious Jackson. Ein Nostalgie-Bonus für Chandeen!
Kritik an den Schwachpunkten sei vorweggenommen. Die Platte ist gut, gesanglich, kompositorisch und klangtechnisch. Aber sie lässt an ein paar Stellen kalt. Dass manche Gitarren-Passagen auch an verflossene Charts-Momente mit Bell Book & Candle und Meredith Brooks erinnern, zu sehr an Spät-90er-Mainstream, schmälert den Spaß bei vier Tracks. Manches an ihnen wirkt hingebogen und angestrengt. "I Don't Care If I'm Wasted", "Ocean Mind" mit der 16-jährigen Odile am Mikro, "Light" und "Wild At Heart" zählen so nicht wirklich zur Habenseite. Doch mit fünf anderen, ganz vorzüglichen Nummern kann sich die Ausbeute sehen lassen: "Summer's Fling" zieht sogar ohne Gesang mit Space Loops von Gitarre und Keyboards in Bann.
In "Vanish" spielt Julia Beyer die Rolle einer verzückenden Sirene und krallt sich den Hörer mit einem changierenden Timbre - zwischen Erwachsensein und Abgeklärtheit, naiver Jugendlichkeit und schmachtendem Sich-Verzehren. Anmutig geht es vor der Kulisse eines süßen Bläsersolos und entschlossener Kickdrums durch Julias Sehnsuchtsbekundungen in "Let There Be Fire".
"You're In A Trance" liefert genau das, was es verspricht. Wer einmal die majestätisch wabernde Hookline "I want my cake and I wanna eat it / (...) I wanna be a fantasy / let me be your summertime / I wanna be your everything / let me be yours" gehört hat, der hat nicht nur einen Volltreffer für die nächste Dreampop-Playlist, der sich zum Joggen genauso wie zum Träumen eignet. Nein, einmal komplett gehört, lässt einen dieser Song garantiert nie wieder los. Seine Katharsis verläuft, als hätte Aristoteles den Song als Fünf-Minuten-Drama geschrieben.
Gesang, Schlagzeug, eiernde Synthies, und die leidenschaftliche E-Gitarre Florian Walthers – hier sitzt jedes Element in jedem Ton perfekt. Besagte Gitarre wäre zwar wenig ohne die Stimme, hat aber in "All Ghosts" einen Auftritt, der sowohl an Bonamassas markerschütternde Klampfe als auch an Satrianis Spiel und stilistisch fast an Steven Wilsons Fantasiegebilde heranreicht; aber nur fast.
Man merkt dem Ganzen ein wenig an, dass es sich um ein Projektgebilde und keine organisch gewachsene Band handelt: Denn vieles läuft hier abgezirkelt und ohne Live-Erfahrung. Trotzdem bringt diese Platte aus Weimar über weite Strecken Sturm und Drang zum Ausdruck. Ein "Mercury Retrograde" ist übrigens eine optische Täuschung beim Blick ins All, ausgelöst von der Planetenstellung des Merkur. Der zehnte Song "Cause It's Slow" serviert dazu die passende sonische Umsetzung.
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